Einwohner von Bil'in demonstrierten im Februar 2010 als Avatare verkleidet gegen den Sperrwall. Das israelische Militär setzte Tränengas gegen die friedlichen Demonstranten ein. Das Foto schoss der israelische Fotograf und aixpaix- Mitarbeiter Edo Medicks.


Ein palästinensisches Dorf wehrt sich - gewaltlos

Seit mehr als fünf Jahren demonstrieren die Bewohner von Bil'in jeden Freitag gegen die israelische Mauer. Ihr Ort ist zum Symbol des Widerstands geworden.

VON JOACHIM ZINSEN

Aachener Nachrichten, 05.08.2010

Bil'in. Wir befinden uns im Jahr 43 nach Ende des Sechs-TageKrieges. Ganz Palästina ist von der israelischen Armee besetzt. Ganz Palästina? Ja! Und doch gibt es in der Westbank einen kleinen Ort, der ein wenig an jenes störrische gallische Dorf aus römischen Zeiten erinnert. Auch hier hören die Einwohner nicht auf, gegen die Eindringlinge zu rebellieren. Es ist ein gewaltloser Widerstand. Der palästinensische Fotograf Hamde Abu Rahma und sein israelischer Kollege Edo Medicks dokumentieren ihn seit Jahren.

Bil'in zählt rund 1800 Einwohner - fast ausschließlich Muslime. Das Dorf liegt 15 Kilometer westlich von Ramallah. Nur knapp 50 Kilometer sind es bis Tel Aviv. Doch die israelische Hafenstadt ist bereits Teil einer anderen Welt. Denn wenige hundert Meter vom Ortsrand Bil'ins entfernt, durchschneidet seit Ende 2004 ein Zaun das Land. Er ist mit Bewegungsmeldern ausgerüstet und wird von israelischen Soldaten streng bewacht. Im Abstand von einigen hundert Metern ragen Wachtürme in den Himmel. Kameras beobachten von hier aus jede Bewegung im Dorf. Die Anlage erinnert an die ehemalige innerdeutsche Grenze. Für die meisten Palästinenser ist diese "Mauer" so gut wie undurchdringlich.

Die israelische Regierung betrachtet den Zaun als Grenze zwischen dem eigenen Staatsgebiet und der besetzten Westbank. Völkerrechtlich korrekt ist das nicht. Denn "die Mauer" wurde bei Bil'in nicht auf der "grünen Linie" - also der Grenze von 1967 - errichtet, sondern ragt weit ins Palästinenserland hinein. Das hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag zwar schon vor Jahren verurteilt. Die Regierung in Jerusalem zeigt sich bis heute davon allerdings völlig unbeeindruckt.

"Seit Jahren kann es nicht mehr regelmäßig bewirtschaftet werden." Was die Israelis mit der willkürlichen Grenzziehung bezwecken, ist für den 23-Jährigen, dessen Familie seit Generationen in Bil'in lebt, offensichtlich: "In den vergangenen Jahrzehnten sind drei israelische Orte in der Nähe von Bil'in auf palästinensischem Gebiet errichtet worden. Unser Land soll dazu dienen, diese jüdischen Siedlungen weiter auszubauen."

Anders als in vielen palästinensischen Orten, wurde in Bil'in schnell Widerstand organisiert, der sich strikt der Gewaltlosigkeit verschrieben hat. Seit Februar 2005 demonstrieren die Einwohner gegen Mauer und Landenteignung. Jeden Freitag ziehen nach dem Mittagsgebet hunderte Menschen vom Ortsrand aus Richtung Grenzzaun. "Es läuft immer nach dem gleichen Muster ab", erzählt Abu Rahma, der die Proteste zunächst als Demonstrant und später als Fotograf begleitet hat. "Sobald sich der Zug der Mauer nähert, feuern die israelischen Soldaten Tränengasgranaten ab und treiben die Demonstranten auseinander. Einige Male wurde sogar scharf geschossen. Häufig gab es Verletzte unter den Demonstranten. Ein Cousin von mir ist dabei getötet worden."

Für die Einwohner von Bil'in hatte der Bau des Zaunes fatale Folgen. Sechzig Prozent ihrer Olivenhaine, der wirtschaftlichen Grundlage des Dorfes, liegen jenseits der Sperranlage. "Unser Land wurde einfach konfisziert", erzählt Abu Rahma.

Gebrochen hat das den Widerstand der Einwohner von Bil'in nicht. Auch juristisch versuchen sie ihr Recht durchzusetzen. Mehrfach haben sie Klagen gegen den Verlauf des Grenzzauns und den Bau jüdischer Siedlerwohnungen auf ihrem alten Land bei israelischen Gerichten eingereicht.

Carter und Tutu zu Besuch im Ort

Bil'in ist inzwischen international zum Symbol für einen friedlichen Widerstand der Palästinenser geworden. Viele weltbekannte Persönlichkeiten wie der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter oder der südafrikanische Bischof Desmond Tutu haben in den vergangenen Jahren den Ort besucht, um gegen die "Mauer der Apartheid" zu protestieren. Unterstützt werden die Einwohner zudem von Friedensaktivisten aus den USA, aus Europa und aus Israel.

Zu ihnen gehört Edo Medicks. Als Soldat der israelischen Besatzungsarmee kam er im Jahr 2000 erstmals nach Bil'in. 2008 kehrte er als Pressefotograf in den Ort zurück. Dabei lernte er Abu Rahma kennen, freundete sich mit dem Kollegen an, begann, die Welt auch ein wenig mit palästinensischen Augen zu sehen. Schon bald, so erzählt Medicks, habe er nicht mehr gewusst, ob er in Bil'in Fotograf oder Demonstrant war.

Der 29-jährige Jude geht mit der israelischen Regierung inzwischen hart ins Gericht: "Verteidigungsminister Ehud Barak behauptet, Israel sei eine Villa im Dschungel. Um diese Villa müsse man einen Zaun bauen. Denn im Dschungel gebe es nur wilde Tiere. Dieser Vergleich sagt alles über die Einstellung vieler Israelis gegenüber den Palästinensern." Für Medicks ist die "zionistische Ideologie" ein wesentlicher Bestandteil des Problems. "Sie unterscheidet Menschen nach Religionen und Rassen. Die israelische Gesellschaft aber ist längst eine multikulturelle Gesellschaft. Das müssen wir endlich akzeptieren."

Medicks spricht davon, dass sich das Klima in Israel in den vergangenen Jahren extrem verschlechtert habe. Gesetze würden verschärft, Kritiker mit Strafverfahren konfrontiert. "Wer sich heute für einen wirklichen Ausgleich mit den Palästinensern einsetzt, gilt schnell als Verräter", sagt der Mann aus Tel Aviv.

Medicks war in den vergangenen Monaten mehrfach für einige Tage in Bil'in. Nachts hat er Erfahrungen machen müssen, die für viele Palästinenser Alltag sind. "Israelische Militärkommandos kamen in den Ort, brachen Wohnungstüren auf, verhafteten gezielt Aktivisten der Protestbewegung" , erzählt der Fotograf. "Manchmal feuerten sie aber auch nur Übungsgranaten ab, die mit ihrem höllischen Radau das ganze Dorf aus dem Schlaf reißen sollte. Seit diesen Nächten weiß ich, was Psycho-Terror ist."

Erster Erfolg vor Gericht

Für Medicks ist es in den vergangenen Wochen schwieriger geworden, nach Bil'in zu gelangen. Die israelische Armee hat das Dorf inzwischen zu einem "geschlossenen Militärgebiet" erklärt, das zwischen acht Uhr morgens und 20 Uhr abends nicht mehr von Ausländern und israelischen Zivilisten betreten werden darf. Offenbar sollen Friedensaktivisten von der Teilnahme an Protesten abgehalten werden.

Medicks klingt pessimistisch, wenn er über die Zukunft spricht. Er glaubt nicht, dass die israelische Gesellschaft in der Lage ist, sich selbst zu reformieren. "Die Anstöße dazu müssten schon von außen kommen", sagt der 29-Jährige und fordert eine gewaltlose internationale Intervention. Was darunter zu verstehen ist? "Es gibt Menschen, die für einen Boykott aller Produkte plädieren, die aus israelischen Siedlungen in den Palästinensergebieten stammen", erklärt Medicks vielsagend. "Wenn ich das als Israeli fordere, kann ich zu einer hohen Geldstrafe verurteilt werden."

Nicht ganz so düster blickt Abu Rahma in die Zukunft und sagt: "Ich glaube, dass Israelis und Palästinenser ein normales friedliches Leben miteinander führen wollen und können. Aber die Regierungen haben anscheinend etwas dagegen." Vielleicht liegt sein Optimismus daran, dass er mit Medicks einen jüdischen Israeli kennengelernt hat, der Verständnis für die Palästinenser entwickelt hat, der ihnen auf Augenhöhe begegnet. Vielleicht liegt es aber auch an einer Entscheidung des obersten israelischen Gerichts. Die Richter haben 2007 befunden, dass der Verlauf des Grenzzaunes um Bil'in illegal ist und den Einwohnern des Dorfes etwa ein Drittel ihrer konfiszierten Olivenhaine zurückgegeben werden müssen. Die israelische Armee hat dieses Urteil zwar lange zu umgehen versucht. Doch vor Monaten ist mit dem Rückbau endlich begonnen worden. Es ist zwar nur ein kleiner Erfolg für die Protestbewegung von Bil'in. Angesichts der Niederlagen, Rückschläge und Demütigungen scheint daraus aber ein Hoffnungsschimmer für das kleine, gallische Dorf auf palästinensischem Boden erwachsen zu sein.

Aixpaix dokumentiert Videos aus Bil'in

Der Palästinenser Haitham al-Khatib begleitet den Widerstand der Bewohner von Bil'in seit Jahren mit der Kamera. Seine Videos von den wöchentlichen Demonstrationen sind auf der Seite des Aachener Internet-Friedensmagazins www.aixpaix.de zu sehen.

Auch das Dorf Bil'in hat eine Internetseite eingestellt. Die Adresse: www.bilin-village.org. Auf ihr sind in englischer und französischer Sprache ebenfalls der langjährige Widerstand der Dorfbewohner sowie aktuelle Ereignisse dokumentiert. (Jozi)


World Wide Web aixpaix.de

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Im Rahmen seine Reihe "Monitoring-Projekt Zivile Konfliktbearbeitung - Gewalt- und Kriegsprävention legte Prof. Dr. Andreas Buro 2007 sein Dossier vor. Lesen Sie hier die aktualisierte Fassung von 2010.

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