Projekt Münchhausen

Hannes Wader

Es ist an der Zeit

Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.

Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.

Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.

Otmar Steinbicker

Die Lüge vom Raketenabwehrschild gegen Iran

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Nach der Grundsatzeinigung, die den Streit um das iranische Atomprogramm beigelegt hat, kommt die Frage auf: Wird jetzt auch das groß angelegte Raketenabwehrsystem der Nato begraben, das angeblich gegen iranische Atomraketen gerichtet war? Die Antwort lautet Nein. Die Behauptung, dass die geplante Raketenabwehr gegen Angriffe aus Iran und Nordkorea entwickelt wurde, ist schlicht eine Lüge.

Am 13. Dezember 2001 kündigte US-Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972, der die Raketenabwehr der USA und der UdSSR drastisch begrenzt hatte, mit den lakonischen Worten auf: „Heute habe ich Russland dem Vertrag entsprechend formell mitgeteilt, dass die USA sich aus diesem fast 30 Jahre alten Vertrag zurückziehen.“

Von einem Begründungszusammenhang mit Iran war da keine Rede.

Medien wie die gut informierte „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, wirkten damals eher ratlos. Die FAZ konstatierte am 14.12.2001: „Der ABM-Vertrag von 1972 verkörperte die epochale Einsicht, daß es gegen die Kombination von Wasserstoffbombe und Interkontinentalrakete keinen Schutz geben könne, daß im Gegenteil Sicherheit nur aus der wechselseitigen Verwundbarkeit (‚mutual assured destruction‘, MAD) erwachse. Mit der im ABM-Vertrag vereinbarten Beschränkung, ja Ächtung von Verteidigungsmaßnahmen zog jene Ruhe in das Verhältnis der damaligen Supermächte ein, die es ihnen ermöglichte, die nukleare Rüstung zu begrenzen und später sogar zu reduzieren.“

Aber warum dann einen solch wichtigen Eckstein internationaler Rüstungskontrolle aufgeben?

Da stellte sich die FAZ zwar die Frage, „wie dringend es ist, sich gegen neue, in ‚Schurkenstaaten‘ entstehende Gefahren zu wappnen“, sah aber die Motivation eher grundsätzlicher:

„Die Amerikaner fanden sich, obwohl sie ‚MAD‘ erfunden und die Russen von seiner Logik überzeugt hatten, nie damit ab, daß die Existenz ihrer Nation von der Vernunft anderer abhängen sollte. Am 11. September haben sie auf furchtbare Weise erfahren, daß es neue Bedrohungen gibt, gegen welche die Abschreckungsstrategie des Kalten Krieges machtlos ist. Ob es den Europäern (insbesondere den Mini-Nuklearmächten unter ihnen), den Russen und den Chinesen gefällt oder nicht: Die Amerikaner werden ein Raketenabwehrsystem bauen, wenn es denn technisch und finanziell möglich ist. Denn sich selbst aus eigener Kraft verteidigen zu können ist Teil des Traums, der in jedem amerikanischen Geschichtsbuch vorkommt.“

Das war allerdings sehr freundlich in Richtung auf die Bush-Administration formuliert. Einen sehr viel konkreteren „Traum“ im Hinblick auf eine Raketenabwehr hatten im Sommer 1980 Colin S. Gray und Keith Payne in der angesehenen, in den USA erscheinenden, außenpolitischen Fachzeitschrift „Foreign Policy“ formuliert. Die Überschrift Ihres Artikels lautete: „Victory is possible“ und gemeint war ein Sieg im Atomkrieg. Wörtlich hieß es in dem Beitrag:

„Sowjetische Führer werden erst durch eine glaubwürdige amerikanische Siegesstrategie beeindruckt sein. Eine solche Lehre müsste den Tod des Sowjetstaates ins Auge fassen. Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der die Wiedergenesung der USA nicht verhindert. Washington sollte Kriegsziele verfolgen, die letzten Endes die Zerstörung der sowjetischen politischen Autorität anstreben sowie die Entstehung einer Weltordnung, die mit westlichen Wertvorstellungen vereinbar ist.“

Der Originalartikel in englischer Sprache.

Selbstverständlich war für die Autoren eine funktionierende Raketenabwehr eine der Voraussetzungen für einen Erfolg versprechenden atomaren Erstschlag der USA, die den zu erwartenden Zweitschlag der UdSSR in erträglichen Grenzen halten sollte. 20 Millionen tote US-Amerikaner hielten die Autoren dabei für durchaus erträglich. Nein, das war kein Horrorszenario von Science-Fiction-Autoren. Colin S. Gray wurde Berater der Reagan-Administration und prägte deren Nuklearstrategie einschließlich des weltraumgestützten Raketenabwehrsystems SDI mit.

Die Frage, die für jeden Beobachter nach der Ankündigung von George W. Bush im Dezember 2001 im Raum stehen musste, lautete: War da eine Neuauflage des Traums von „Victory is possible“ geplant oder ging es um etwas völlig Neues? Interessanterweise wurde diese Frage aber kaum gestellt.

Als der US-Präsident ein Jahr später den Aufbau einer Raketenabwehr in Fort Greeley (Alaska) bekannt gab, die bis zum Jahr 2004 einsatzbereit sein sollte, dämmerte der traditionell CDU-nahen Düsseldorfer „Rheinischen Post“ einiges. In ihrer Ausgabe vom 17.12. 2002 notierte sie einige Gedanken, die es verdienen, ausführlicher zitiert zu werden: „Kommt das endgültige grüne Licht für die Stationierung nicht überraschend, so hat der Präsident den Zeitpunkt des offiziellen ‚Startschusses‘ klug gewählt. … Als wäre es mit Blick auf den Bush-Beschluss zur Raketenabwehr inszeniert, hatte es die US-Regierung in den vergangenen Tagen gleich mit allen drei Ländern zu tun, die sie zur ‚Achse des Bösen‘ zählt. Ist der Irak ‚Dauerbrenner‘, rückten auch Nordkorea und Iran ins Blickfeld. …Alles das spielt Bush in seinem Streben nach einer Raketenabwehr in die Hände. … Vor diesem Hintergrund haben es Kritiker einer Raketenabwehr heute doppelt schwer. Die Angst vor Attacken eines Osama bin Laden oder Saddam Hussein ist für die Bevölkerung einfach greifbarer als die vor den möglichen Folgen der Abkehr vom Prinzip des strategischen Gleichgewichts, die bisher durch die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen gewahrt wurde.“

Goethes Faust hätte da wohl ausgerufen: „Das also ist des Pudels Kern!“

Als es darum ging, auch in Europa Elemente des US-Raketenabwehrsystems zu errichten, war der Irak als möglicher „Bösewicht“ bereits ausgeschaltet. Die Begründung für den im März 2003 begonnenen Irak-Krieg findet sich in einer anderen „Lügengeschichte“.

Jetzt erst musste der nächste der üblichen Verdächtigen herhalten und so hieß die Meldung im August 2006: „Raketenschild: Bush will Europa vor dem Iran schützen“. Im Text hieß es weiter: „Die USA wollen in den kommenden Monaten Standorte für Abfangraketen in Europa vorschlagen, mit denen mögliche iranische Angriffe verhindert werden sollen. Die USA planen, bis 2011 zehn Abfangraketen in Europa zu stationieren.“

Am 2.6.2007 meldete dann Radio Prag: „US-Präsident Bush hält Tschechien und Polen für den Aufbau des geplanten Raketenabwehrsystems am besten geeignet, da das System dort am effektivsten eingesetzt werden könnte. ... Der amerikanische Präsident wiederholte, dass sich das Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland richten werde. Russland lehnt den Aufbau des Systems ab. Bush verteidigte die Pläne zum Aufbau der Raketenabwehr mit der Bedrohung aus dem Iran. Bush sagte, er habe große Befürchtungen, dass der Iran Raketen mit Atomsprengköpfen bauen könnte.“

Militärexperten waren schlicht verwundert, wie Iran seine bis dahin (und bis heute) nicht vorhandenen Langstreckenraketen auf seltsame Umwege schicken sollte, damit sie ausgerechnet über Polen und Tschechien abgeschossen werden könnten. Aber das focht die Propagandisten der iranischen Bedrohung nicht im Geringsten an.

Beim G-8-Gipfel Anfang Juni 2007 in Heiligendamm legte dann Russlands Präsident den Finger genau in diese Wunde. In „Spiegel online“ hieß es süffisant: „Wladimir Putin erwischte US-Präsident George W. Bush kalt ... Putin schlug Bush beim bilateralen Treffen am Rande des G-8-Gipfels in Heiligendamm vor, bei einem Abwehrsystem gegen eine mögliche Bedrohung aus Nordkorea und Iran auf dem Boden des iranischen Nachbarlandes Aserbaidschan zusammenzuarbeiten. Damit könne ganz Europa vor einer Bedrohung geschützt werden, sagte Putin.“

Ginge es um eine militärische Bedrohung mit Atomraketen aus dem Iran, hätte Putins Vorschlag womöglich Sinn gemacht. Solche Raketen gleich in der Startphase mit Abwehrsystemen aus dem Nachbarland unschädlich zu machen, klang allemal logischer, als ihnen in Polen und Tschechien aufzulauern, wo sie kaum erreichbar wären. Putins Vorschlag hatte obendrein eine weitere Logik: Ginge es bei dem US-Raketenschild nicht wie vorgegeben, um eine Abwehr iranischer Raketen, sondern in Realisierung des alten Traums von Colin S. Gray, um die Verhinderung eines russischen Zweitschlags, dann würde die Stationierung von US-Abwehrraketen in Aserbaidschan keinen Sinn machen, weil dort russische Raketen in Richtung Europa oder USA so wenig erreichbar wären, wie iranische über Tschechien und Polen.

Dass die Lüge von der Bedrohung durch iranische Raketen dennoch immer wieder gerne aufgewärmt und kolportiert wird, darf allerdings nicht verwundern. Sie erzählt sich halt gut, klingt für Laien überzeugend und lässt weitergehende Fragen, etwa nach einer Neuauflage von US-Erstschlagstrategien, erst gar nicht aufkommen.

Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


World Wide Web aixpaix.de

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Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.

Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.

Das Projekt Münchhausen fordert alle auf, die Geschichten der großen und kleinen Kriegslügen zu erzählen, mit denen die Menschen zur Gewalt gegen einander verführt wurden – von den Kreuzzügen, über den angeblich Gerechten Krieg, den Tonking-Zwischenfall an den Küsten Vietnams, bis zur dreisten Lüge des US-Außenministers über die Atombomben des Saddam Hussein und dem Militär als letztem Mittel der angeblich Humanitären Intervention?

Wir müssen uns befreien von dem Spinnengewebe der Lügen und Legitimationsideologien, die unsere Mitmenschen zu Feinden und Feindbildern und uns zu Gewalt gegen sie in der globalisierten Gesellschaft machen wollen. Das Projekt Münchhausen soll dazu einen Beitrag leisten.