Lügengeschichte des Monats September 2014
Martin Singe
Es begann mit einer Lüge: Kunduz-Bombardement am 4.9.2009
Schon der Afghanistan-Krieg, der direkt nach 9/11 im Jahre 2001 begonnen wurde, ist mit Lügen begründet worden. Denn der Krieg war lange zuvor geplant gewesen, und schon vor 9/11 waren auch deutsche KSK-Truppen bereits nach Afghanistan verlegt worden. Aber hier soll es nicht insgesamt um den Afghanistan-Krieg gehen, sondern um eine Kampfhandlung in diesem Krieg.
Der damalige Oberst (inzwischen befördert zum Brigadegeneral!) Klein hatte am 4. September 2009 befohlen, zwei auf einer Sandbank festgefahrene Tanklaster und die umstehenden Menschen durch Bombenabwürfe zu vernichten. Die Bomben wurden von zwei US-amerikanischen F-15-Bombern abgeworfen. Etwa 140 Menschen, vorwiegend Zivilisten, kamen in den Flammen um. Die Generalbundesanwaltschaft hat eine Ermittlung gegen Oberst Klein eingestellt. Eine Zivilklage wurde im Dezember 2013 vom Bonner Landgericht zurückgewiesen. In beiden Entscheidungen wird betont, Oberst Klein hätte die Bomben nicht gezielt auf Zivilisten abgeworfen und hätte obendrein davon ausgehen können, dass gar keine Zivilisten vor Ort waren. Selbst die Bundesregierung log noch nach dem Bombardement, dass auch sie keine Erkenntnisse hätte, dass Zivilisten durch das Bombardement umgekommen seien. Diese Lüge ließ sich jedoch nicht lange aufrechterhalten.
Um überhaupt die US-amerikanische Luftunterstützung zu erhalten, belog Oberst Klein die NATO-Einsatzführung mit der Behauptung, seine Soldaten hätten direkte Feindberührung. Die NATO hatte nach den Ereignissen selbst Ermittlungen angestellt. „Gegenüber den NATO-Ermittlern gab Klein zudem zu, dass er gezielt die Unwahrheit gesagt habe, um die amerikanische Luftunterstützung zu sichern. Dafür musste er den Eindruck erwecken, dass seine Soldaten Feindberührung hatten, also ‚troops in contact’ waren, kurz TIC. ‚Sein Problem sei gewesen, dass er gewusst hätte, dass es in Wirklichkeit keine TIC-Situation gab’, heißt es in dem Protokoll von Kleins Befragung zusammenfassend.“ (Spiegel online, 16.1.2010)
Danach wurden die Piloten der Kampfjets belogen, die nachfragten, ob wirklich eine akute Bedrohung vorliege. Klein ließ seinen Flugleitoffizier antworten, dass die um die Tanklaster versammelten Menschen eine akute Bedrohung darstellten, da es Erkenntnisse über laufende Operationen gebe und er einen Angriff auf das Feldlager Kunduz vermute. Im NATO-Bericht dagegen ist festgehalten, dass es keine gesicherten Erkenntnisse über einen bevorstehenden Angriff auf das Feldlager gegeben hätte. Zudem waren die Tanklaster in Gegenrichtung zum Feldlager unterwegs gewesen und auf der Sandbank des Kunduz-Flusses zur Tatzeit des Bombenabwurfes bereits seit Stunden hoffnungslos festgefahren.
Darüber hinaus hat Oberst Klein die Einsatzregeln (Rules of Engagement) nicht eingehalten. Er hätte zumindest den Oberkommandierenden der Region Nord informieren und in die Entscheidung einbeziehen müssen. Gemäß NATO-Bericht „isolierte sich (Oberst Klein) vom System der gegenseitigen Kontrolle und gemeinsamen Verantwortung“. (Spiegel online, 30.1.2010) Stattdessen wird allerdings vermutet, dass der BND miteinbezogen war.
Statt also die Einsatzregeln zu beachten, fällte Klein alleine mit seinem Flugleitoffizier, Bundeswehr-Aufklärern und Angehörigen des Kommando-Spezial-Kräfte (KSK), die insgesamt die Task Force 41 bildeten, die Entscheidung zum Abwurf der Bomben. Als Grundlage, dass angeblich nur Taliban vor Ort waren, diente ihnen die Auskunft eines Spitzels, der dies behauptete, ohne sich selbst in Sichtweite zu den Tanklastern aufzuhalten. Diese einzige Quelle genügte Oberst Klein, hinterher zu behaupten, dass er davon ausgehen musste, dass keine Zivilisten vor Ort wären.
Im Zivilprozess vor dem Bonner Landgericht am 30.10.2013 wurden die Videoaufnahmen der Kampjets, die in Echtzeit zu Oberst Klein in die Fliegerleitzentrale übertragen wurden, in der öffentlichen Verhandlung in Augenschein genommen. Bildmaterial von ca. 60 Minuten wurde vorgeführt. Außer für die Anwälte der Bundesregierung, die die Beklagten-Seite vertraten, war dabei eindeutig zu sehen, wie eine Vielzahl von Personen unorganisiert zu den Tanklastern hinzieht und wieder abzieht. Die einzig logische Erklärung ist die, die auch später von Zeugen immer wieder vorgetragen wurde, dass es sich um vorwiegend Zivilisten aus den drei umliegenden Dörfern handelt, die sich Benzin abzapfen. Es sind Schlangenlinien von Menschen zu erkennen, die sich zu den Lastern hin- und wieder wegbewegen und um die Tanklaster herum besonders dicht versammelt sind. Dass es sich hierbei um eine Ansammlung von Taliban, die einen Angriff auf das deutsche Heereslager vorbereiten, handeln soll, geben die Aufnahmen überhaupt nicht her. Zumindest konnte auf dieser Grundlage nicht ausgeschlossen werden, dass keine Zivilisten vor Ort seien. Ein „Experte“ aus dem Verteidigungsministerium erklärte auf die Frage der Kläger, ob die Bilder Bewegungsmuster von Soldaten bzw. Rebellen erkennen ließen, dass zwar kein militärisches Verhalten zu erkennen sei, aber auch kein „zivilisatorisches“, was im Gerichtssaal Gelächter auslöste.
Laut NATO-Bericht war der Bundeswehr durch einen Informanten auch bekannt, dass einer der entführten LKW-Fahrer noch am Leben sei. Den Piloten gegenüber, die ausdrücklich nach den LKW-Fahrern fragten, behauptete Oberst Klein, er hätte darüber keine Informationen. Einer der US-Piloten berichtete gegenüber der NATO, dass sie die Bomben nicht geworfen hätten, wenn sie gewusst hätten, dass einer der entführten Tanklastfahrer noch im Zielgebiet ist. (Spiegel online, 30.1.2010)
Nach den Videosichtungen wurden die wesentlichen Inhalte der Funkprotokolle zwischen den Piloten und der Flugleitstelle vorgetragen. Die Piloten hatten insgesamt sechs Mal gefragt, ob sie nicht erst eine „show of forces“ machen sollten, also einen Tiefflug zur Warnung und als Aufruf, den Ort zu verlassen. Jedesmal hat Oberst Klein verneint und auf die sofortige Bombardierung bestanden. Er war sich also bei der Befehlserteilung sicher, dass dabei über 100 Menschen verbrennen werden. Offensichtlich hatten die US-Piloten dagegen Zweifel.
Anschließend wurde im Prozess ein Sachverständiger, der 10 Jahre in Afghanistan u.a. bei UNO und EU tätig war, angehört und befragt. Er betonte vor allem, dass die Taliban üblicherweise in kleineren Gruppen agieren, meist 6-8, maximal 20 Personen. Eine Ansammlung von 100 Taliban in diesem Kontext sei kaum vorstellbar. Nach seinem Eindruck war angesichts der auf der Sandbank festgefahrenen Tanklaster auch keinerlei Gefahr im Verzug erkennbar gewesen. Und wenn die Tanker leergezapft sein würden, hätten sie sich wiederum nicht mehr als Explosivwaffen geeignet. Wenn aber keine Gefahr im Verzug gegeben ist, ist ein solcher Angriff auch in militärischer Logik weder angemessen noch zeitlich notwendig.
Der Richter am Bonner Landgericht, der mit der konkreten Beweisaufnahme erst Hoffnungen weckte, folgte im Urteil dann jedoch exakt der Einstellungsbegründung des Strafverfahrens durch die Generalbundesanwaltschaft. Es läge keine schuldhafte Amtspflichtverletzung vor. Auch die von den Piloten angemahnten Warn-Tiefflüge wären nicht nötig gewesen, da Oberst Klein davon ausgehen durfte, dass nur Taliban vor Ort gewesen seien. Völkerrechtlich ist vor einem Angriff eine Warnung an die Zivilbevölkerung zwingend vorgeschrieben, sofern sie möglich ist.
Das humanitäre Kriegsvölkerrecht ist selbstverständlich grenzwertig zu betrachten. Denn indem es Zivilistenschutz gewähren will, trägt es natürlich gleichzeitig zur Rechtfertigung von Kriegen bei. Krieg ist immer ein Verbrechen und zu ächten. Auch eine Versammlung von 140 Taliban mit Bomben auszulöschen, wäre ein Verbrechen. Aber unter den heutigen Bedingungen muss wenigstens um die Einhaltung der Minimalia des Völkerrechts auch rechtlich gerungen werden.
Der Einfluss der Bundesregierung auf das erschütternde Urteil des Bonner Landgerichtes ist unübersehbar. So reihte der Richter sein Urteil auch in die Geschichte der Entscheidungen von Distomo und Varvarin ein, in denen ebenfalls Schadensersatzklagen abgewiesen worden waren. Das Ergebnis: Deutsche Soldaten sollen auch künftig ohne Angst vor Strafe bombardieren dürfen.
Martin Singe ist Referent beim Komitee für Grundrechte und Demokratie und Redakteur des FriedensForums.