Projekt Münchhausen

Hannes Wader

Es ist an der Zeit

Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.

Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.

Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.

Lügengeschichte des Monats August 2014

Wolfram Wette

Deutsche Kriegslügen in der Julikrise 1914

Kaum jemals in der Weltgeschichte ist die Wahrheit so verdreht worden wie in Deutschland während der Julikrise 1914. Die Spätfolgen sind noch heute, 100 Jahre danach, mit Händen zu greifen: Historiker schwadronieren über Schlafwandler, die in einer komplexen Konfliktlage angeblich nicht wussten, was sie taten, als sie den Weltkrieg entfesselten.

In der Welt von 1914 war der Krieg noch nicht verboten. Das geschah erst mit dem Briand-Kellogg-Stresemann-Pakt von 1929. Aber in den Bevölkerungen der europäischen Nationalstaaten besaß der Angriffskrieg schon seit dem 19. Jahrhundert keine allgemeine Akzeptanz mehr. Großmächte wie Russland, England und Frankreich suchten den Krieg als Mittel der Politik zugunsten friedlicher Lösungen zu überwinden. Solche Bemühungen sind allerdings auf den Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907 hauptsächlich an Deutschland gescheitert.

Die in ihrer großen Mehrheit friedliebenden Menschen waren bereit, ihr Land zu verteidigen, nicht aber, sich für Eroberungen missbrauchen zu lassen. Daher mussten kriegswillige Regierungen bestrebt sein, ihre Absichten vor der Bevölkerung des eigenen Landes zu kaschieren und eine Verteidigung vorzutäuschen. Genau nach diesem Muster agierte die deutsche Reichsleitung in der Julikrise 1914, angeführt von Reichskanzler Theobald v. Bethmann Hollweg.

Er war sich darüber im Klaren, dass sich der industrialisierte Volkskrieg der Zukunft nur mit Aussicht auf Erfolg führen ließ, wenn es gelang, die Industriearbeiterschaft und ihre Organisationen – die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften – mit ins Boot der nationalen Kriegspolitik zu holen. Das war nicht einfach. Denn in diesen Kreisen wurde ein möglicher Zukunftskrieg als „verbrecherischer Wahnsinn“, als „Massenmord“ und als „Attentat gegen Menschlichkeit und Vernunft“ angesehen und verworfen.1 Gleichzeitig betrachtete man einen Krieg zur Verteidigung des Landes jedoch als legitim, dies zumal, wenn zum Beispiel die Aggression von dem als reaktionär, despotisch und kulturfeindlich eingeschätzten Russland ausgehen sollte.

Tatsächlich gelang es Theobald von Bethmann Hollweg in der Julikrise von 1914 durch eine geschickte Regie, mit der wahrheitswidrigen Behauptung den Eindruck zu erwecken, Deutschland sei nichts anderes übrig geblieben, als auf die russische Generalmobilmachung zu reagieren. Am Abend des 31. Juli 1914 verkündete Kaiser Wilhelm II. auf einer patriotischen Kundgebung vor dem Berliner Schloss: „Neider zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand.“2 Der Reichskanzler sekundierte: „Sollte uns das Schwert in die Hand gezwungen werden, so werden wir ins Feld ziehen mit gutem Gewissen und dem Bewusstsein, dass nicht wir den Krieg gewollt haben.“3

Am 1. August erklärte das Deutsche Reich Russland den Krieg. Die Kriegserklärung an Frankreich erfolgte am 3. August. Einen Tag später verkündete Wilhelm II. im Reichstag, was ihm Bethmann Hollweg vorformuliert hatte: „In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.“ Gleichzeitig beschwor er unter stürmischem Beifall der Abgeordneten die innere Einigkeit des deutschen Volkes mit dem Satz: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche.“4 Bethmann Hollweg hatte sein Ziel erreicht. Er konnte nun vor dem Reichstag seine historische Verteidigungslüge präsentieren: „Russland hat die Brandfackel an das Haus gelegt. Wir stehen in einem erzwungenen Kriege mit Russland und Frankreich.“5 Im Hinblick auf Frankreich belog der Reichskanzler die Abgeordneten zusätzlich mit den völlig aus der Luft gegriffenen Behauptungen: „Bombenwerfende Flieger, Kavalleriepatrouillen auf reichsländisches Gebiet, eingebrochene französische Kompagnien! Damit hat Frankreich, obwohl der Kriegszustand noch nicht erklärt war, den Frieden gebrochen und uns tatsächlich angegriffen.“6

Mit der Manipulation, den eigenen Willen zum Krieg in einen Verteidigungskrieg umzulügen, drängte Bethmann Hollweg die zögernde Sozialdemokratie, die noch kurz zuvor deutschlandweit Friedensdemonstrationen organisiert hatte, dazu, eine Verteidigungssituation anzunehmen, in der sie sich dem Vaterland nicht verweigern wollte. Gegen den Willen von 14 ihrer Mitglieder bewilligte die aus 110 Abgeordneten bestehende SPD-Reichstagsfraktion daraufhin die ersten Kriegskredite. Der Chef des Marinekabinetts, Admiral Georg von Müller, freute sich über den gelungenen Coup des Reichskanzlers und notierte am Abend des 4. August: „Stimmung glänzend. Die Regierung hat eine glückliche Hand gehabt, uns als die Angegriffenen hinzustellen.“7

Der prominente Reichstagsabgeordnete und Theoretiker des Revisionismus, Eduard Bernstein, der zum rechten Flügel der SPD zählte, stimmte am 4. August 1914 im Glauben an die Rechtmäßigkeit der deutschen Sache im Reichstag für die Kriegskredite. Aber bereits im Oktober 1914, nach dem Studium veröffentlichter Dokumente zum Kriegsbeginn, erkannte er: „Die deutsche Regierung ist der Hauptschuldige am Kriege; wir sind eingeseift worden; die Bewilligung der Kriegskredite war ein Fehler.“8 Bei den meisten Deutschen hat sich diese Erkenntnis auch später nicht durchgesetzt, bei vielen sogar bis heute nicht.

1 Aus der Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses Basel 1912. In: Außerordentlicher Internationaler Sozialisten-Kongress zu Basel am 24. und 26. November 1912 [Protokoll]. Berlin 1912, S. 23.

2 Ansprache Wilhelms II. vom 31.7.1914 , in: Schulthess´ Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. 30. Jg. 1914. Hrsg. v. Wilhelm Stahl. Erste Hälfte. Berlin 1917, S. 370.

3 Ansprache von Reichkanzler Bethmann Hollweg am Abend des 31.7.1914, in: ebda., S. 370 f.

4 Thronrede Kaiser Wilhelms II. vom 4. August zur Eröffnung des Reichstags im Weißen Saal des königlichen Schlosses, in: ebda., S. 381 f.

5 Rede Bethmann Hollwegs vor dem Reichstag am 4.7.1914, in: ebda., S. 382 f.

6 Ebda., S. 384.

7 Notiz Admiral v. Müllers vom 1.8.1914, zit. nach Dieter Groh: Negative Integration und revolutionärer Attentismus. Die deutsche Sozialdemokratie am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1973, S. 672; ebenfalls zitiert von Fritz Fischer, Juli 1914, S. 42 (dort Hinweis auf die Quelle: BA-MA, N 159/4).

8 Das Kriegstagebuch des Reichstagsabgeordneten Eduard David 1914 bis 1918. In Verbindung mit Erich Matthias bearbeitet von Susanne Miller. Düsseldorf 1966, Eintrag vom 3.9.1914, S. 32.


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Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.

Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.

Das Projekt Münchhausen fordert alle auf, die Geschichten der großen und kleinen Kriegslügen zu erzählen, mit denen die Menschen zur Gewalt gegen einander verführt wurden – von den Kreuzzügen, über den angeblich Gerechten Krieg, den Tonking-Zwischenfall an den Küsten Vietnams, bis zur dreisten Lüge des US-Außenministers über die Atombomben des Saddam Hussein und dem Militär als letztem Mittel der angeblich Humanitären Intervention?

Wir müssen uns befreien von dem Spinnengewebe der Lügen und Legitimationsideologien, die unsere Mitmenschen zu Feinden und Feindbildern und uns zu Gewalt gegen sie in der globalisierten Gesellschaft machen wollen. Das Projekt Münchhausen soll dazu einen Beitrag leisten.