Lügengeschichte des Monats November 2014
Wolfram Wette
Die Dolchstoßlegende – eine deutsche Kriegslüge von 1918/19 und ihre schwerwiegenden Folgen
Die Wahrheit konnte sich nicht sehen lassen. Sie musste hinter Kriegslügen verborgen werden. Bei Kriegsbeginn 1914 operierte die deutsche Reichsleitung mit einer Verteidigungslüge, am Ende des Krieges hatte sie nicht den Mut, die militärische Niederlage Deutschlands öffentlich einzugestehen. Stattdessen behauptete die militärische und später auch die politische Führung wahrheitswidrig, das deutsche Heer sei „im Felde unbesiegt“ geblieben.1
Die 3. Oberste Heeresleitung unter Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und General Erich Ludendorff regierte Deutschland seit 1916 wie eine Militärdiktatur. Jahrelang gaukelten diese Generäle der deutschen Öffentlichkeit die Möglichkeit eines Sieges vor. Plötzlich, am 29. September 1918, schockierten sie den Kaiser und die zivile Reichsleitung mit der Hiobsbotschaft, dass der Krieg für Deutschland militärisch verloren sei. Die Militärs drängten jetzt auf einen Waffenstillstand und auf eine Reform des deutschen Regierungssystems, nämlich auf die Umwandlung des militaristischen Obrigkeitsstaates in eine parlamentarische Monarchie. Dies geschah nicht etwa, weil die Generäle Geschmack an der Demokratie gefunden hätten. Vielmehr wollten sie der Forderung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson nach einer Demokratisierung des Landes – als Voraussetzung für einen erträglichen Friedensschluss - entgegenkommen. Gleichzeitig hatten die führenden Militärs stets die Interessen ihres Berufsstandes im Auge. Diese legten ihnen nahe, alles zu tun, um in der Öffentlichkeit nicht mit der Schuld am verlorenen Krieg belastet zu werden.
Am 3. Oktober 1918 setzten die Oberste Heeresleitung und der Kaiser eine neue Reichregierung unter dem Kanzler Prinz Max von Baden ein, der auch Politiker der Sozialdemokratie, des Zentrums und der Fortschrittlichen Volkspartei als Staatssekretäre angehörten. Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches „von oben“ erfolgte am 28. Oktober 1918. Hernach weigerten sich die für die Niederlage verantwortlichen Führer der Obersten Heeresleitung, den von ihnen geforderten Waffenstillstand selbst auszuhandeln und zu unterzeichnen, weil dies nach ihrem Kalkül als ein Eingeständnis des Versagens des Militärs hätte interpretiert werden können. Daher musste nun der zivile Politiker Matthias Erzberger von der Zentrumspartei am 11. November 1918 im Namen der Reichsregierung in Compiègne das Waffenstillstandsabkommen mit Frankreich und England unterzeichnen.
Einen Tag später wandte sich Hindenburg mit einem Aufruf an die in die Heimat zurückflutende Armee. „Aufrecht und stolz“, tönte er, „gehen wir aus dem Kampfe, den wir über vier Jahre gegen eine Welt von Feinden bestanden“.2 Seitdem schwirrte die Vorstellung durch das Land, das deutsche Heer sei letztlich unbesiegt geblieben. Auch der Vorsitzende der Revolutionsregierung der Volksbeauftragten, der Sozialdemokrat Friedrich Ebert, benutzte dieses Bild sinngemäß in seiner Ansprache an die heimkehrenden Truppen in Berlin am 11. Dezember 1918: „Kein Feind hat Euch überwunden. Erst als die Übermacht der Gegner an Menschen und Material immer drückender wurde, haben wir den Kampf aufgegeben. […] Erhobenen Hauptes dürft ihr zurückkehren.“3 So trugen Viele dazu bei, das Faktum der militärischen Niederlage zu verdrängen.4
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In ihrer ersten Phase zielte die Täuschungsstrategie der deutschen Militärführung darauf ab, die Niederlage zu leugnen oder schönzureden. Ein Jahr später inszenierten Hindenburg und Ludendorff die zweite, noch wesentlich folgenschwerere Etappe ihrer Entlastungsstrategie. Sie präsentierte der deutschen Öffentlichkeit einen Buhmann, einen Schuldigen, einen Sündenbock. Als geeignete Bühne bot sich ihr Auftritt am 29. September 1919 vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss an, den die Nationalversammlung zur Untersuchung der Ursachen der deutschen Niederlage eingesetzt hatte. In selbstherrlicher Pose legte Hindenburg dort sein militaristisches Credo dar, die unverkennbar an der Vorstellung vom totalen Krieg orientiert war: Wir mussten unterliegen, sagte er, „wenn nicht die gesamte Heimat für den Sieg auf dem Schlachtfelde eingestellt wurde und die moralischen Kräfte nicht dauernd aus der Heimat erneuert wurden“. Aber die Heimat habe versagt: „Ich wollte kraftvolle und freudige Mitarbeit, und bekam Versagen und Schwäche.“ Dann folgte das böse Wort vom Dolchstoß, das schon seit Monaten durch die Lande geisterte: „So mussten unsere Operationen misslingen, es musste der Zusammenbruch kommen. […] Ein englischer General5 sagte mit Recht: ‚Die deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden‘. Den guten Kern des Heeres trifft keine Schuld.“6 Damit hatte Hindenburg, der mit Abstand bekannteste deutsche Militär jener Zeit, die Schuld für den für Deutschland negativen Kriegsausgang auf jene Kräfte der deutschen Gesellschaft abgewälzt, die sich seit 1917 für einen Verständigungsfrieden eingesetzt hatten und die – aus nationalistischer Sicht – zugleich für die Novemberrevolution 1918 verantwortlich waren. Jetzt war die Dolchstoßlegende von Hindenburgs Autorität gedeckt.
Sehnsüchtig griffen die Völkischen und Nationalisten verschiedener Couleur nach der Dolchstoßlüge, weil sie erkannten, dass diese die Möglichkeit bot, an der sogenannten Realpolitik festzuhalten, obwohl diese doch gerade in der Version der kriegerischen Machtpolitik der Jahre 1914-1918 in dramatischer Weise gescheitert war. Wenn man für die militärische Niederlage Fremdverschulden und Verrat verantwortlich machen konnte, dann stand einem neuerlichen „Griff nach der Weltmacht“ nichts im Wege. Daher instrumentalisierten sie die Dolchstoßlegende zu einer machtvollen innenpolitischen Propagandawaffe gegen Sozialdemokraten, Juden und Pazifisten, jene Teile der deutschen Gesellschaft also, die Hitler später summarisch als „Novemberverbrecher“ diffamieren sollte.
Nach 1933 stellte die nationalistisch verfälschte Interpretation des Kriegsendes 1918 ein wichtiges Motiv für das Hitler-Regime dar, alle potentiell kriegsgegnerischen Kräfte aus dem politischen Leben gewaltsam auszuschalten. 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges, entfesselten das NS-Regime und die Wehrmacht einen systematischen Terror gegen alle Deutschen, die des Defätismus verdächtig waren, und verhinderten so, dass ein organisierter Widerstand gegen den Krieg entstehen konnte.
Nach dem Ende des Krieges konfrontierten Offiziere der siegreichen amerikanischen Streitkräfte den Wehrmacht-General Günther Blumentritt mit der für sie rätselhaften Frage: “Warum hat der deutsche Soldat in aussichtsloser Lage bis zum Schluss des Krieges 1939-1945 gekämpft?“ Der Vertreter des preußisch-deutschen Kriegertums erinnerte in seiner Antwort an das Ende des Ersten Weltkrieges und argumentierte: Im Jahre 1945 hätten die Deutschen „die Lehren von 1918“ begriffen, sie hätten geschlossen gegen den Bolschewismus gestanden und daher bis zur bedingungslosen Kapitulation gekämpft.7
1Vgl. Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914-1933. Düsseldorf 2003; Thomas Flemming/Bernd Ulrich: Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, Epilog – „Dolchstoß-Legende“, S. 270-277; die ältere, faktenreiche Darstellung von Joachim Petzold: Die Dolchstoßlegende. Eine Geschichtsfälschung im Dienste des deutschen Imperialismus und Militarismus. Berlin 3. Aufl. 1963; sowie den gut informierten Eintrag zur Dolchstoßlegende in: http://de.wikipedia.org/wiki/Dolchsto%C3%9Flegende.
2Hindenburgs Aufruf an die Armee vom 12.11.1914, in: Gerd Krumeich: Die Dolchstoß-Legende. In: Etienne Francois/Hagen Schulze (Hrsg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1. München 2009, S. 585-599.
3Rede Friedrich Eberts in Berlin vom 11.12.1918. In: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Hrsg. von Herbert Michaelis u. Ernst Schraepler, Bd. 3, Berlin o.J. (1958), S. 504 f.
4Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen 1983.
5Gemeint war der englische General Frederik Maurice, den ein Schweizer Journalist bereits am 17.12.1918 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ mit der – später dementierten - Aussage zitierte, die deutsche Armee sei „von der Zivilbevölkerung von hinten erdolcht“ worden. Siehe Barth, Dolchstoßlegenden, S. 324.
6Hindenburg am 18.11.1919. Zit. nach Barth, Dolchstoßlegenden, S. 322.
7Zit. nach Wolfram Wette. Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legenden. Frankfurt/ 2005, S. 167 f. und 185.