Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.
Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.
Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.
Lügen und verschweigen / April 2015
Tessa Hofmann
Der Genozid an armenischen Christen im Osmanischen Reich 1915
Im Ersten Weltkrieg waren das deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich militärisch mit einander verbündet. Deutschland war daran interessiert, die sogenannte Bagdad-Bahn zu bauen. Das Osmanische Reich stand seit vier Jahrhunderten im Dauerkonflikt mit Russland und nutzte, von Deutschland dazu angestachelt, den Weltkrieg, um russische Schwarzmeerhäfen zu beschießen, und griff Russland mitten im Winter 1914/15 an, was 90.000 osmanische Soldaten mit dem Leben bezahlten.
Die russisch-osmanische Staatsgrenze teilte das Siedlungsgebiet der christlichen Armenier. „Das strategische Morden begann bereits am 30. September 1895 nach einer armenischen Demonstration im damaligen Konstantinopel und breitete sich im Herbst und Winter über das ganze Land aus. Die Vorgeschichte dieser Massaker hatte 1894 begonnen, als es in den Bergen des Sassun eine Auseinandersetzung mit Armeniern gegeben hatte, die sich weigerten, weiterhin Schutzgelder und Sondersteuern an kurdische Warlords zu zahlen.“ 15.000 osmanische Soldaten hatten daraufhin 40 Bergdörfer im Sassum zerstört und deren Bevölkerung ermordet. 1
Das nationalistische Kriegsregime der „Jungtürken“ trieb ab Juni 1915 den Großteil der osmanischen Armenier, also auch die, welche weit entfernt von der Kriegsfront lebten, in die Wüstengebiete der damaligen Provinz Syrien (heute Nord-Irak sowie Nordost-Syrien), wo unter den Bedingungen von Krieg und allgemeiner Hungersnot kein Überleben möglich war. Als die zuständigen Behörden im Frühjahr 1916 erkannten, dass das Hungersterben zu langsam erfolgte, wurden die Insassen der noch vorhandenen Deportiertenlager massakriert und zu Tausenden lebendig verbrannt. Binnen 19 Monaten wurden so nach Schätzung der deutschen Botschaft zu Konstantinopel anderthalb Millionen Armenier_innen ermordet. 2
Zur Begründung des Deportationsbefehls dient bis heute ein lokaler „Aufstand“ der verzweifelten armenischen Bevölkerung in der Grenzprovinz Van, die sich in der gleichnamigen Provinzhauptstadt vor Massakern regulärer und irregulärer Soldateska zu verteidigen versuchte.
Ihr wurde, statt sie zu schützen, massenhafter Verrat der Armenier am osmanischen Staat unterstellt.
Auch deutschen politischen Entscheidungsträgern diente diese verlogene Behauptung als Vorwand, um den bedrohten armenischen christlichen Glaubensbrüdern eine humanitäre Intervention zu versagen. Die zahlreich bei der Botschaft Konstantinopel eingehenden ausführlichen Berichte deutscher Konsuln aus den osmanischen Provinzen führten allerdings dazu, dass diese Lüge sich in der deutschen Führungsspitze nicht lange aufrechterhalten ließ. Bereits am 17. Juni 1915 schlussfolgerte Botschafter Hans von Wangenheim: „Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage.“ 3 Drei Wochen später, am 7. Juli 1915, formulierte er seine Erkenntnis angesichts der landesweiten Todesmärsche noch deutlicher: „Dieser Umstand und die Art, wie die Umsiedelung durchgeführt wird, zeigen, dass die Regierung tatsächlich den Zweck verfolgt, die armenische Rasse im türkischen Reiche zu vernichten.“ 4
Wangenheim, der bis 1912 Botschafter in Athen gewesen war, hätte sich auch daran erinnern können, dass sich das jungtürkische Regime seit seiner Machtergreifung 1909 gegenüber den bis zu drei Millionen zählenden Griechen osmanischer Staatszugehörigkeit („innere Feinde“, „Tumore“) einer genozidalen Rhetorik bediente. Als größte indigene christliche Bevölkerungsgruppe wurden die überwiegend an den Küsten des Osmanischen Reiches siedelnden Griechen von den Machthabern als stärkste Bedrohung nationaler Sicherheit gesehen und entsprechend bereits seit 1913 Opfer von Deportationen und wirtschaftspolitischen Vernichtungsmaßnahmen, die die antijüdischen Restriktionen der Nationalsozialisten vorausnahmen: „Kauft nicht bei Christen!“ lautete die osmanische Variante des Boykottaufrufs. Denn die „Islamisierung“ der bis dahin nichtmuslimischen wirtschaftlichen Elite bildete für die jungtürkischen Machthaber neben der ethnischen Homogenisierung das Hauptziel ihrer Versuche, das zerfallende feudale Vielvölkerreich zu stabilisieren.
Es ist signifikant für die Versäumnisse insbesondere der deutschen Geschichtswissenschaft, dass die genauen deutschen Schuldanteile am jungtürkischen Genozid an den Armeniern und anderen christlichen Ethnien bis heute nicht aufgearbeitet wurden.5 Ist Deutschland nur die billigende Hinnahme der Verbrechen des osmanischen Verbündeten anzulasten oder waren darüber hinaus einzelne Deutsche Impuls- oder sogar Befehlsgeber für die mörderische Deportationspolitik verantwortlich? Vor allem unter den osmanischen Christen herrschte schon 1915 die Vorstellung, dass Deutschland der eigentliche Urheber der jungtürkischen Deportationspolitik war. Wie auch andere, berichtete der Überlebende und Geistliche Grigoris Palakjan in seinen Memoiren, dass Generalfeldmarschall Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der Goltz (1843-1916) die dauerhafte Umsiedlung „von einer halben Million Armeniern in den grenznahen Provinzen Van, Bitlis und Erzurum“ nach Aleppo und Mesopotamien schon im Februar 1914 vorschlug: „Im Austausch sollen die Araber aus dieser Gegend in die russisch-türkischen Grenzgebiete umgesiedelt werden.“6 Als Hauptgrund deutscher Armenierfeindlichkeit sah Palakjan Deutschlands Abhängigkeit von der Türkei. Daher konnte es „(…) nicht freundlich zu den Armeniern sein, die mit Fürsprache der Westeuropäischen Mächte nach Autonomie, wenn nicht gar Unabhängigkeit strebten. Die deutsche Politik im Orient erforderte, dass Deutschland die Türkei benutzen musste, um die pan-islamische Bewegung für sich zu gewinnen, und um die Bagdadbahn bauen zu können und bis nach Indien zu gelangen (…).“7 Für den besonders im konservativen deutschen Offizierskorps weit verbreiteten Armenierhass nennt Palakjan Antisemitismus: Sie „(…) sprachen oft von uns als christlichen Juden und blutsaugenden Wucherern des türkischen Volkes.“8 „Es waren deutsche Offiziere, welche den Türken bei dem Vormarsche der türkischen Armee nach Transkaukasien und noch mehr bei ihrem Rückzuge (…) den Rat gaben, die unzuverlässige armenische Bevölkerung der Grenzgebiete zu evakuieren“, bestätigte im Februar 1919 auch der Missionswissenschaftler Julius Richter in der „Allgemeinen Missionszeitschrift“.9
Der deutsche Diplomat und Geheimdienstler Max von Oppenheim („Abu Dschihad“) regte noch vor dem Weltkrieg an, dass der Scheich-ul-Islam als muslimisches Religionsoberhaupt zum „Heiligen Krieg“ aufrief. Oppenheims Kalkül schlug freilich fehl: Der Aufruf führte in den britischen Kolonien nicht zu einem allgemeinen antiimperialistischen Aufstand gegen Deutschlands Kriegsgegner, sondern transformierte sich zum „türkischen Krieg, aber gegen alle Nichttürken“10, mit über drei Millionen christlichen Opfern in Kleinasien und Mesopotamien.
Als der deutsche Sonderbotschafter zu Konstantinopel, Paul Graf Wolff von Metternich zur Gracht, am 7. Dezember 1915 dem Reichskanzler Bethmann Hollweg eine Revision der kritiklosen Türkeipolitik empfahl, um das internationale Ansehen Deutschlands zu retten, wies ihn der deutsche Regierungschef ab: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.“ 11
Deutschland profitierte von der Zwangsarbeit Tausender Armenier auf den als kriegswichtig geltenden Bauabschnitten der Bagdadbahn im Amanos- und Taurosgebirge, wo die osmanische Heeresleitung der Firma Holzmann sowohl muslimische Deserteure, als auch armenische Deportierte, darunter Frauen und Kinder ab zwölf Jahren, zur Verfügung stellte. Männliche Erwachsene erhielten für ihre Arbeitsleistung von 12 Stunden täglich ein Pfund Brot; sie entgingen der Vernichtung freilich nur bis Anfang Juni 1916. Als Ersatz für die dann auf Befehl Talats massakrierten bzw. deportierten Armenier überstellte die Heeresleitung der Firma Holzmann fast verhungerte britische und indische Kriegsgefangene. 12
Die offizielle Türkei bestreitet bis heute die Vernichtungsabsicht bei der Deportation der Armenier. Regierungsnahe Apologeten rechnen mit fragwürdigsten Methoden die Opferzahlen herunter, indem z.B. verhungerte oder an Seuchen verstorbene Deportierte unberücksichtigt bleiben. Abweichend von der Übereinkunft zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord der Vereinten Nationen, der der osmanische Genozid an Christen empirisch zugrunde liegt, reduzieren türkische, aber teilweise auch deutsche Historiker Genozid auf Massaker.
Türkische Schulgeschichtsbücher sind seit Jahren die Hauptträger amtlicher Geschichtslügen. So wird in ihnen hehauptet, die Türken blieben selbst noch im Weltkrieg großherzig und sorgten angeblich für das leibliche Wohl der Deportierten; selten war eine Geschichtslüge dreister als diese aus einem türkischen Schulbuch des Jahres 2014:
„Damit die Bedürfnisse der umgesiedelten Armenier unterwegs gestillt werden, wurden eigens Beamte beauftragt (…) Damit auf dem Weg zum Zielort und am Zielort selbst niemand die Umsiedler tätlich angreift, wurden geeignete Maßnahmen ergriffen. Angreifer wurden umgehend festgesetzt und dem Kriegsgericht zugeführt (…) Man hat darauf geachtet, dass der Boden an den Zielorten fruchtbar ist und es an Wasser nicht mangelt. Um die Sicherheit von Leib und Leben zu gewährleisten, wurden dort Polizeistationen gegründet.“ 13
Zugleich erscheinen Armenier vor Missionaren und Kurden in den aktuellen Schulgeschichtsbüchern weiterhin als größte Bedrohung der türkischen Staatssicherheit. Deutschland sekundiert dieser für die armenische Minderheit der Türkei brandgefährlichen Geschichtsverfälschung, in dem es sich hartnäckig weigert, die „Massaker und Vertreibung“ als Genozid entsprechend der UN-Konvention zu bewerten. Es übernimmt zugleich die offizielle türkische Behauptung, dass eine Tatsachenfeststellung auch nach Jahrzehnten internationaler Forschung noch immer ausstehe. Die Bundesregierung setzt damit eine hundertjährige deutsche Tradition des Schweigens und Verschweigens fort, denn im Ersten Weltkrieg wurde verschärfte Militär-Vorzensur über jegliche kritische Türkei- und Armenienberichterstattung verhängt; Zeitungsleser in Deutschland erfuhren damals so gut wie nichts über den Völkermord „hinten, fern in der Türkei“. Einer der Hauptverantwortlichen des Genozids, der vormalige Innenminister des Osmanischen Reichs Talat, fand nach dem Krieg Zuflucht in Berlin, wo er am 15. März 1921 von einem Armenier erschossen wurde. Schon im Juni machte das Landgericht Berlin-Moabit einen kurzen Prozess, und sprach den Attentäter nach nur zwei Tagen frei, doch dann verschwand das Thema wieder aus der Öffentlichkeit. Die Dokumentationen des Theologen Dr. Johannes Lepsius, dem „Wohltäter der Armenier“, waren aufrüttelnd und eindrucksvoll, erreichten aber keine breite gesellschaftliche Wirkung.
Im Jahre 2015 haben viele deutsche Kirchen zum 100. Jahrestag des Genozids Stellung bezogen und Medien berichten. Die Gesellschaft ist offensichtlich in dieser Frage viel weiter als die Bundesregierung sowie der deutsche Gesetzgeber; auf Anweisung der Fraktionsspitzen von CDU/CSU und SPD sowie des Auswärtigen Amtes wurde der Begriff „Völkermord“ aus einer Beschlussvorlage der „GroKo“ gestrichen. Auch das Büro des Staatsoberhaupts Gauck umschreibt Genozid mit „Leid“.
So ist es nicht verwunderlich, dass in den heutigen deutschen Schulgeschichtsbüchern der Genozid an Armeniern und anderen osmanischen Christen nicht stattfindet. Das stellt in der zunehmend von Einwanderungsgemeinschaften geprägten bundesdeutschen Gesellschaft nicht nur ein folgenreiches Versäumnis menschenrechtlicher Bildung dar, sondern setzt geschichts- und erinnerungspolitisch die falschen Akzente.
Dr. phil. Tessa Hofmann, Genozidforscherin; Arbeitsgruppe Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung e.V.
1 Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern, Köln 2005
5 Ganz aktuell erschien jetzt. Gottschlich, Jürgen:, Beihilfe zum Völkermord.Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier, Berlin 2015
6 Balakian, Grigoris: Armenian Golgotha: A Memoir of the Armenian Genocide, 1915-1918. Translated by Peter Balakian with Aris Sevag. New York 2009, S. 24. - In der englischen Ausgabe wird allerdings Colmar von der Goltz mit Baron Rüdiger von der Goltz verwechselt. – Als weitere deutsche Urheber der Umsiedlungsidee nennt der armenische Genozidforscher Vahakn Dadrian Kolonel von Diest und namentlich den Publizisten Paul Rohrbach. Vgl. Dadrian, Vahakn N.: The History of the Armenian Genocide: Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus.2nd rev. ed. Providence, Oxford 1997, S. 254
12 Balakian, Grigoris: Armenian Golgotha: A Memoir of the Armenian Genocide, 1915-1918. Translated by Peter Balakian with Aris Sevag. New York: Alfred A. Knopf, 2009, S. 268 f.; 297
13Zitiert aus: Kantian, Raffi: Völkerverständigung? Unmöglich mit den neuen türkischen Geschichtsbüchern. 16.11.2014 - http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/2014/11/16/voelkerverstaendigung-unmoeglich-mit-den-neuen-tuerkischen-geschichtsbuechern/
Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.
Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.
Das Projekt Münchhausen fordert alle auf, die Geschichten der großen und kleinen Kriegslügen zu erzählen, mit denen die Menschen zur Gewalt gegen einander verführt wurden – von den Kreuzzügen, über den angeblich Gerechten Krieg, den Tonking-Zwischenfall an den Küsten Vietnams, bis zur dreisten Lüge des US-Außenministers über die Atombomben des Saddam Hussein und dem Militär als letztem Mittel der angeblich Humanitären Intervention?
Wir müssen uns befreien von dem Spinnengewebe der Lügen und Legitimationsideologien, die unsere Mitmenschen zu Feinden und Feindbildern und uns zu Gewalt gegen sie in der globalisierten Gesellschaft machen wollen. Das Projekt Münchhausen soll dazu einen Beitrag leisten.