Projekt Münchhausen

Hannes Wader

Es ist an der Zeit

Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.

Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.

Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.

Volker Böge

100 Jahre ANZAC Mythos

25. April 2015 in Australien: Hunderttausende in den großen Städten und im entlegensten Kaff auf den Beinen bei Paraden und Gedenkfeiern, Politikerreden ohne Ende, Gottesdienste, Sondersendungen auf allen TV-Kanälen, Dokumentationen, Fernseh-Serien, Diskussionsrunden, Life-Schaltungen, alle Tageszeitungen mit dicken Beilagen oder Sonderausgaben. Es ist ANZAC Day. Das ist alljährlich ein arbeits- und schulfreier Feiertag. Spezielles Gebäck gibt es dazu auch: ANZAC Biskuits (staubige Kekse). Die Nation feiert sich selbst. Dieses Jahr besonders heftig. Denn es ist ein runder Feiertag: Der 100. Jahrestag. Von was? Einem absurden Gemetzel, bei dem Tausende junge Australier – und Zehntausende junge Männer anderer Nationen - zu Tode kamen.

Am 25. April 1915 landeten die ersten Verbände des Australia New Zealand Army Corps (ANZAC) in einer Bucht – die später den Namen ANZAC Cove erhalten sollte - auf der Halbinsel Gallipoli an den Dardanellen, um im Rahmen einer groß angelegten Offensive zusammen mit britischen, französischen u.a. Truppen die Halbinsel zu erobern, die Meerenge der Dardanellen für die allierten Seestreitkräfte frei zu kämpfen und schließlich Konstantinopel, das heutige Istanbul und damals Hauptstadt des mit Deutschland im Ersten Weltkrieg verbündeten Osmanischen Reiches, einzunehmen. So der Plan. Der scheiterte allerdings grandios. Das Landungsunternehmen blieb im Abwehrfeuer der osmanischen Verteidiger stecken. Die alliierten Truppen konnten nur zwei Brückenköpfe bilden und mussten sich in einem schmalen Küstenstreifen eingraben. Es folgten – für den Ersten Weltkrieg charakteristische – Grabenkämpfe, in der keine Seite größere Geländegewinne machen konnte. Die australisch-neuseeländischen Truppen hatten mit ihrer Bucht einen besonders schwierigen Abschnitt erwischt, und die monatelangen Kämpfe kosteten 8587 australische Soldaten das Leben (es kamen zudem um: rund 32 000 Briten, 9000 Franzosen, 2700 Neuseeländer, 1300 Inder sowie rund 57000 Untertanen des Osmanischen Reichs). Ende Dezember 1915 wurde das Unternehmen abgebrochen, die alliierten Truppen bzw. das, was von ihnen noch uebrig war, verzogen sich bei Nacht und Nebel: nach sieben Monaten unsinnigen Gemetzels eine eindeutige militärische Niederlage (und dann auch noch eine Niederlage gegen den ‘Kranken Mann am Bosporus’!).

Das Gallipoli-Unternehmen – ein im Gesamtzusammenhang des Ersten Weltkriegs recht unerhebliches Ereignis – ist in australischer Politik und Öffentlichkeit seit nun 100 Jahren Anlass für hemmungslose Heldenverehrung, wird als ‚Geburtsstunde der Nation’ abgefeiert und heutzutage zum Ausweis der Opferbereitschaft für ‘Freiheit und Demokratie’ verklärt.

Begeistert war Australien im August 1914 dem britischen Mutterland in den Krieg gefolgt. Auch die starke Labour-Party war – wie die sozialdemokratischen Parteien anderswo – für den Krieg. Tausende von jungen Männern meldeten sich – vornehmlich aus Reise- und Abenteuerlust, wie es heisst – freiwillig zu den Fahnen (eine Wehrpflicht gab es nicht). Sie wurden dann bei Gallipoli und an der europäischen Westfront verheizt. Australien hatte – gemessen an der Bevölkerungszahl – im Ersten Weltkrieg die höchsten Verluste, und es war für das Land der (bisher) verlustreichste Krieg. Bei einer Bevölkerung von damals knapp drei Millionen stellte Australien 300.000 Soldaten für den Krieg in Europa; davon wurden 60.000 getötet, und 156.000 wurden verwundet oder gerieten in Gefangenschaft. Das war für die junge Nation ein unerhörter Schlag. Die anfängliche Begeisterung legte sich denn auch bald. Die Freiwilligen-Meldungen gingen mit zunehmender Kriegsdauer kontinuierlich zurück. Zwei Versuche der australischen Regierung im Oktober 1916 und im Dezember 1917, die Wehrpflicht per Volksabstimmung einzuführen, um den Anforderungen der britischen Führung nach mehr ‚Menschenmaterial’ nachkommen zu können, scheiterten (knapp). Die Verklärung des Gemetzels an den Dardanellen und die Umdeutung der militärischen Niederlage in einen moralischen Sieg diente denn auch zunächst dazu, den Kampfeswillen an der Heimatfront zu stärken und für intensivierte Kriegsanstrengungen zu werben. Und so wird seit 1916 am 25. April ANZAC Day gefeiert und der ‚Spirit of ANZAC’ beschworen.

In der nachträglichen Deutung wird dem Gemetzel auf Gallipoli der ‚Sinn’ unterschoben, dass in den Schützengräben dort die australische Nation geschmiedet worden sei. Tatsaechlich hatten sich die britischen Kolonien auf dem australischen Kontinent 1901 zu einem Staat, dem‚Commonwealth of Australia’, zusammen geschlossen. Den australischen Nationalstaat gab es zu Beginn des Ersten Weltkrieges also erst seit 13 Jahren, und die Weltkriegsteilnahme wurde zum ersten Unternehmen mit nationaler Dimension. Während die Staatsgründung 1901 ein recht nüchterner administrativer Vorgang gewesen war, der wenig nationalistische Begeisterung hervorrief, konnte das Gallipoli-Unternehmen zur eigentlichen Geburtsstunde der Nation überhöht werden. Dort hatten sich Australiens Söhne in den Schützengräben bewährt, und sie hatten sich geopfert, damit die Nation geboren werden konnte. In dieser Lesart, die bis heute hegemonial ist, hat der Krieg Australien ‘gemacht’. Gallipoli war die (Feuer-)Taufe der Nation.

Zugleich sei durch den Einsatz in Gallipoli Australien auf der Bühne der Weltpolitik angekommen und habe sich in den Augen ‘der Welt’ bewährt. Diese ‘Welt’ war allerdings vor allem die herrschende Elite im britischen Mutterland, an deren Anerkennung und Lob der australischen Elite so gelegen war wie einem folgsamen Sohn an Anerkennung und Lob vom gestrengen Vater. Durch die Opfer bei Gallipoli habe man bewiesen, dass man in Treue fest zum britischen Mutterland und Empire stehe. Die Narrative von der Geburt der Nation und der Bindung an das britische Empire gingen bei den ersten ANZAC-Feiern Hand in Hand.

Diese Feiern während des Krieges dienten auch dazu, den Patriotismus und die Kriegsbegeisterung aufrecht zu erhalten. Die Fronten brauchten dringend Nachschub an Menschenmaterial, und so wurde die Beschwörung des Opfermutes der Helden von Gallipoli als Rekrutierungsmittel eingesetzt und in Kampagnen für die Wehrpflicht instrumentalisiert. Die Kriegsbefürworter nutzten die ANZAC-Feiern zur Hebung der Moral an der Heimatfront, um die es angesichts hoher Verluste und der Rückkehr physisch sichtbar versehrter und psychisch gebrochener Kriegsveteranen nicht gut bestellt war. Persönliche Trauer um die verlorenen Söhne, Brüder, Enkel, Freunde hatte da keinen Platz.

Die ANZAC-Feiern stiessen während des Krieges auf Ablehnung in grossen Teilen der australischen Bevölkerung, etwa in der Arbeiterschaft und bei der grossen irischstämmigen katholischen Bevölkerungsgruppe (mehr als 20% der damaligen Bevölkerung), die mit britischem Patriotismus wahrlich nicht zu begeistern war (der Osteraufstand gegen die Briten in Dublin fiel in die Zeit der ersten ANZAC-Feiern 1916). Der ANZAC-Mythos war anfangs eine Sache der königstreuen, protestantischen, konservativen Bevoelkerungsteile und keineswegs der grosse die Nation vereinigende Faktor als der er heute dargestellt wird.

Heutzutage wird am ANZAC Day der Toten aller australischen Kriege gedacht. Und da kommt Einiges zusammen: Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man an der Seite des neuen großen Bruders USA jede größere Operation mitgemacht: Korea, Vietnam, Irak, Afghanistan und jetzt wieder Irak und Syrien. Der ANZAC-Mythos dient nicht zuletzt dazu, heutige Kriegsbeteiligungen zu legitimieren. Australische Regierungen sind befugt, ihre Truppen in den Krieg zu schicken, ohne das Parlament fragen zu muessen.

Der heute gebetsmühlenhaft wiederholte Topos, dass die jungen Australier in Gallipoli 2015 für ‘uns’, für ‘unsere Demokratie’, für ‘Freiheit’, für ‘unsere Werte’ (wie Menschenrechte und Multikulturalismus) gefallen seien, hat mit der Realität nichts zu tun: getötet haben sie und getötet wurden sie damals für ‘King and Empire’, für das britische Weltreich - und das fern der Heimat, beim Angriff auf ein fremdes Land und Volk. Und so kommen im öffentlichen Gedenken auch nur ‘Opfer’ und ‘Heldenmut’ vor, nicht aber die historischen Zusammenhänge und die Ursachen und Motive für das Gallipoli-Unternehmen.

In den Gräben an der Westfront sind übrigens sehr viel mehr Australier getötet worden als auf Gallipoli, einem unbedeutenden Nebenkriegsschauplatz. In sieben Wochen wurden in den Kämpfen bei Pozieres mehr australische Soldaten getötet als in den acht Monaten Gallipoli. Doch eignet sich eine malerische Bucht an den Gestaden des Mittelmeers offensichtlich besser zum Totenkult als ein langweiliger Landstrich in Belgien oder Frankreich. Und so pilgern denn Jahr für Jahr um den 25. April herum Tausende von Australiern zu den Kriegsgräbern von ANZAC Cove. Ganze Schulklassen werden bei den alljährlichen ‚Debt of Honour Anzac Tours’ zu den Soldatenfriedhöfen gekarrt. Was lernen die jungen Leute?: Nationen werden im Krieg und von Kriegern gemacht. Junge Australier nehmen ANZAC Cove auch gern auf ihrer Europareise mit. Dieses Jahr waren es wegen des 100. Jahrestages besonders viele: rund 10.000 Australier sollen sich auf die ‘Pilgerfahrt’ (‘pilgrimage’ – so der offiziöse Terminus) nach Gallipoli gemacht und zusammen mit ihrem erzreaktionären Premierminister den Tag auf der ‘heiligen Erde’ in ANZAC Cove begangen haben.

Die türkische Seite pflegt ihren eigenen Gallipoli-Mythos: Befehlshaber der osmanischen Truppen dort war Kemal Atatürk, der ‘Vater’ der modernen Türkei. Gallipoli gilt als Meilenstein auf dem Weg zum türkischen Nationalstaat. Mit dem Abfeiern der ‘Heldentaten’ der Türken bei Gallipoli zur Verteidigung der Heimat lässt sich komfortabel ablenken von dem zur selben Zeit verübten Genozid an den Armeniern.

Das Ergebnis der Abstimmungen über die Wehrpflicht 1916 und 1917 ist heute weitgehend unbekannt und wird verschwiegen, um den Mythos von einer einig für den Krieg eintretenden Nation zu kolportieren. In Wirklichkeit war die australische Gesellschaft während des Krieges politisch und sozial tief gespalten; doch diese Wahrheit passt nicht in die heutige politische Landschaft. Es ist zu erwarten, dass die Jahrestage der Wehrpflicht-Abstimmungen von 1916 und 1917 von der australischen Mehrheitsgesellschaft und den Medien der veröffentlichten Meinung mit Schweigen übergangen werden werden. Dabei haben jene Menschen, die die Kampagnen gegen die Wehrpflicht geführt und damit Tausenden junger Männer, die sonst als Kanonenfutter für den Krieg in Europa verschifft worden wären, das Leben gerettet haben, ehrendes Gedenken wahrlich verdient.

Dank an Mark Cryle, Brisbane, für Interpretationshilfen und die Einsicht in seine in Arbeit befindliche Dissertation über den ANZAC-Mythos.


World Wide Web aixpaix.de

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Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.

Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.

Das Projekt Münchhausen fordert alle auf, die Geschichten der großen und kleinen Kriegslügen zu erzählen, mit denen die Menschen zur Gewalt gegen einander verführt wurden – von den Kreuzzügen, über den angeblich Gerechten Krieg, den Tonking-Zwischenfall an den Küsten Vietnams, bis zur dreisten Lüge des US-Außenministers über die Atombomben des Saddam Hussein und dem Militär als letztem Mittel der angeblich Humanitären Intervention?

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