Friedensgutachten 2016
Friedensforscher fordern: Fluchtursachen bekämpfen – Flüchtlingspolitik solidarisch gestalten
07.06.2016 – Die Herausgeberinnen und Herausgeber des Friedensgutachten 2016 fordern von der deutschen Politik, Verantwortung zu übernehmen: bei der Bekämpfung der Fluchtursachen und bei der Gestaltung einer solidarischen Flüchtlingspolitik.
Wenn autoritäre Regime sich nur mit Repression an der Macht halten oder Staatsapparate keine Leistungen für das Gemeinwesen erbringen, münden Konflikte leicht in Gewalt und beschleunigen den Zerfall staatlicher Strukturen. Auch eine ungerechte Welthandelsordnung kann dazu beitragen, die Akzeptanz politischer Institutionen zu untergraben. „Wir brauchen eine faire Welthandelsordnung, die allen nützt“, fordert das Friedensgutachten 2016 (FGA). Es prangert deshalb die Kumpanei der Industrieländer mit raffgierigen Eliten autokratischer Länder an und warnt zugleich davor, den Erfolg externer Eingriffe in Gewaltkonflikte zu überschätzen. Die desaströsen Erfahrungen in Afghanistan, Irak und Libyen sollten eine Lehre sein.
Robustes Peacekeeping der UNO, Präventionsarbeit gegen europäischen Dschihadismus, Ende der Rüstungsexporte an Saudi-Arabien
Frankreich verdient nach den Anschlägen in Paris am 13. November 2015 Solidarität. „Aber den IS besiegt man nur politisch“, betont das FGA. Gegen seine Strahlkraft im arabischen Raum könnten Partizipation und Reformen helfen, die soziale Standards absichern. Damit lässt sich die Widerstandsfähigkeit der Gesellschaften gegen dschihadistische Heilslehren stärken. Das FGA kritisiert auch die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg gegen den IS in Syrien. Aus den Pariser Anschlägen lässt sich kein Recht auf Selbstverteidigung gemäß UN-Charta ableiten. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler plädieren entschieden dafür, sich der Aufweichung des Gewaltverbots zu widersetzen und lehnen die Teilnahme an „Koalitionen der Willigen“ ab. Stattdessen solle sich Deutschland dafür einsetzen, das robuste Peacekeeping der UNO zu stärken, um Massenverbrechen zu verhindern.
Dringlich ist mehr Präventionsarbeit gegen europäischen Dschihadismus. Erst Ausgrenzung und Entfremdung machen die Versprechen des IS attraktiv. Das FGA fordert mehr Ressourcen für soziale Integration und politische Teilhabe, damit verunsicherte junge Menschen ein Gefühl gleichberechtigter Zugehörigkeit in Europa entwickeln können.
Saudi-Arabien ist kein Stabilitätsanker. Es interveniert aus eigenem Machtinteresse in die Bürgerkriege in seiner Nachbarschaft. Das FGA verlangt ein Ende der Rüstungsexporte an Saudi-Arabien und unterstützt die Forderung des Europäischen Parlaments nach einem Waffenembargo. „Wir fordern ein Rüstungsexportgesetz und darin ein Verbot der Vergabe von Lizenzen für Kleinwaffenproduktionen an Drittstaaten sowie eine zuverlässige Endverbleibskontrolle vor Ort“, unterstreichen die Herausgeberinnen und Herausgeber.
Keine Militärintervention in Libyen
Angesichts neuer Fluchtbewegungen erwägt die EU, ihre Marinemission Sophia auf die libyschen Küstengewässer oder sogar auf das Festland auszuweiten. Aber in Libyen gibt es kaum Regierungsstrukturen, die Verhandlungen über Migration erlauben würden. Das FGA hält eine Militärintervention in Libyen für einen Fehler und plädiert dafür, die Marine vorrangig für die Rettung aus Seenot einzusetzen.
Mittel für die Transformationspartnerschaft mit Tunesien
Tunesien benötigt Unterstützung, um für Sicherheit im eigenen Lande zu sorgen und den Zulauf von Foreign Fighters für den IS zu beenden. „Wir empfehlen der Bundesregierung, die Mittel für die Transformationspartnerschaft mit Tunesien zu verdreifachen und an Bedingungen zu knüpfen: Rechtsstaatlichkeit, Partizipation und Transparenz sind die Voraussetzungen für das Vertrauen der Bevölkerung in den Sicherheitsapparat“, so das Friedensgutachten.
Afghanistan kein sicheres Herkunftsland
In Afghanistan kontrollieren die Taliban ausgedehnte Gebiete. Staatsnahe Paramilitärs und Milizen drangsalieren die Bevölkerung. In dieser Lage grenzt das Vorhaben Deutschlands, Flüchtlinge nach Afghanistan abzuschieben, an Zynismus. „Es gibt dort keine sicheren Zonen. Kriegsflüchtlingen aus Afghanistan muss weiterhin Schutz und Aufenthalt in Deutschland gewährt werden“, verlangt das Friedensgutachten.
Aktionsplan Zivile Krisenprävention fortentwickeln
Für zivile Strategien und humanitäre Hilfe sind mehr Ressourcen nötig. Deutschland sollte hierbei eine Vorbildrolle einnehmen. Noch immer liegt die deutsche Entwicklungshilfe weit unter der Zielmarke von 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Humanitäre Organisationen in der Türkei, im Libanon und in Jordanien benötigen dringend mehr Geld für die Versorgung von Flüchtlingen. Anders als Deutschland haben viele Staaten ihre Hilfszusagen nicht eingehalten. Umso glaubwürdiger kann sich die Bundesregierung dafür einsetzen, die Kapazitäten der UN-Nothilfe nachhaltig zu erweitern. Das Friedensgutachten begrüßt die geplante Fortentwicklung des Aktionsplans Zivile Krisenprävention zu einem Leitliniendokument, hält allerdings die Aufstockung der Mittel von 95 auf 248 Millionen Euro für unzureichend. Die für 2016 geplanten Ausgaben für militärische Beschaffung betragen das 18-Fache. Steuermittel zur Bekämpfung von Fluchtursachen einzusetzen sei eine nachhaltigere Investition in den Frieden als die Modernisierung von Kriegsgerät. „Wir fordern, alle Interventionen der Bundeswehr zu evaluieren: unabhängig und ergebnisoffen“, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Erfolgreich seien Interventionen, wenn sie Gewalt minimieren und Frieden nachhaltig sichern helfen.
„Solidarpakt für Flüchtlinge“ in der EU
Was zumeist „Flüchtlingskrise“ heißt, ist eine Krise der Politik im Umgang mit dem Fluchtgeschehen. Konstruktionsfehler im europäischen Projekt haben dazu beigetragen, dass Gewaltkonflikte in unserer Nachbarregion seinen Zusammenhalt gefährden. Solange die Flüchtlinge in Italien oder Griechenland verblieben, widersetzten sich die Länder des Nordens einer solidarischen Verteilung. Heute weigern sich die meisten Mitgliedstaaten, Souveränitätsrechte abzugeben und gemeinsam beschlossene Regeln einzuhalten. Das FGA begrüßt die Initiative der Bundesregierung für einen „Solidarpakt für Flüchtlinge“ in der EU. „Gebraucht wird ein verlässlicher Schlüssel zur Verteilung der Flüchtlinge. Er muss sanktionierbar sein, um die normative Basis der EU zu retten“. Statt nationaler Abschottung werden europäische Behörden benötigt, die den geordneten Grenzübertritt von Einreisenden und Schutzsuchenden gewährleisten und Asylanträge ermöglichen.
Friedensgutachten fordert Einwanderungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode
In Deutschland haben die Regierenden zu lange die Realität geleugnet, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Das FGA begrüßt deshalb die Vorlage eines Integrationsgesetzes. Das Integrationsangebot in Deutschland ist bisher völlig unzureichend. Länder und Kommunen benötigen deutlich mehr Mittel. Die Herausgeberinnen und Herausgeber kritisieren, dass Flüchtlinge erst an Sprachkursen teilnehmen dürfen, wenn ihr Asylverfahren abgeschlossen ist, und halten die Wohnsitzauflage für anerkannte Flüchtlinge für falsch. Wenn Integration gelingen soll, sei auch die Sozialpolitik gefordert. Verdrängungsängste leisten der Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit Vorschub. „Wir fordern die Vorlage eines Einwanderungsgesetzes noch in dieser Legislaturperiode“, so die Herausgeberinnen und Herausgeber. Sein Ziel müsse sein, Einwanderung zu legalisieren und zu steuern. Um die Migrations- und Integrationspolitik insgesamt aufzuwerten, unterstützt das FGA die Forderung nach einem eigenen Bundesministerium für die große Querschnittsaufgabe Migration und Integration.
Das Friedensgutachten 2016 im Wortlaut