Karl Grobe

ISIS im Irak – Die Geister, die ich rief ...

12.08.2014

„Amerikanische Soldaten werden nicht wieder in Irak kämpfen“. Das hat Präsident Barack Obama Mitte Juni versprochen. Die Formel „no boots on the ground“ wäre eindeutiger gewesen; denn die zunächst 300 Berater, die der US-Präsident (außer den üblichen Flotteneinheiten im Persischen Golf, darunter der Flugzeugträger mit dem passenden Namen „George W. Bush“) werden sehr wohl kämpfen, wenn auch mit anderen Mitteln, es als der Präsident mit dem Namen George W. Bush befohlen hatte. Präzise militärische Aktionen kündigte Obama nämlich in genau dem Atemzug an, in dem er ansagte, US-Soldaten würden nicht kämpfen. Die Drohnen fliegen. Die USA sind in Irak wieder Kriegspartei.

Für den Kriegseinsatz am Boden, der immer Menschenleben kostet, gibt es Verbündete und Hilfskräfte. Im irakischen Fall ist Iraks Armee gemeint. Der sollen US-Berater zunächst „auf höherer Kommandoebene“ zur Seite stehen, später wohl auf Brigade-Niveau, Kundschafter, Aufklärer, Auswerter. Spezialisten in militärischer Spionage, denen aber offenbar bei allem technischen Vorsprung der Aufmarsch der ISIS bis vor kurzem schlicht nicht aufgefallen ist. Dass es bei den angedrohten Präzisionsangriffen bleiben wird, für die die Kampfdrohnen der US Army und der CIA ohne jeden Zweifel geeignet sind, ist unwahrscheinlich. Obama weiß genau, dass die in Irak (und in Syrien und mit Iran) zu erreichenden Lösungen politischer und eben nicht nur kurzfristig-militärischer Natur sind. Die militärischen Kräfteverhältnisse aber sind eindeutig; die Stichworte Mossul, Tikrit, Sindschar, Staudamm verweisen auf das Vordringen jener Jihadisten-Organisation, die sich jetzt „Kalifat“ nennt.

Obamas Vokabular – keine Bodentruppen, keine direkten Kampfhandlungen, Berater, Aufklärung – erinnert stark an die Verschleierungs-Rhetorik der Sprecher Kennedys und Johnsons, als aus dem französischen Indochina-Krieg allmählich der amerikanische Vietnam-Krieg wurde, nur dass es vor 50 Jahren noch keinen Drohnenkrieg gab und dass gegenwärtig noch keine explizite Domino-Theorie lanciert wurde. Der unreflektierte Anti-Islamismus übernimmt allerdings zusehends die Prägung des Bewusstseins – nicht nur der Tea Party. Die Stereotype sind so falsch wie simpel, sie entziehen sich auf Tatsachen beruhender differenzierender Betrachtung und polarisieren, wie es im Kalten Krieg der Fall war. Genauere Kenntnis islamischer Geschichte und aktueller Vielgestalt ist in den westlichen Gesellschaften ohnehin wenig verbreitet, das Feindbild verführt um so leichter. Die Gefahr, die in der allmählichen Umformung der öffentlichen Meinung liegt, ist nicht allein wegen der Wahlerfolge fremdenfeindlicher, also meistens rechtsextremer Parteien offensichtlich.

Im gegenwärtigen Konflikt – dem Anschein nach zwischen Sunniten und Schiiten, also zwei islamischen Konfessionen – entwickelt sich nun die Ansicht, ohne eine wohlwollende, wenngleich nicht nur sanfte Einmischung der USA oder gleich der „Wertegemeinschaft“ sei keine Konfliktlösung möglich. Nicht viel ist falscher. Irak war ein säkularer Vielvölkerstaat, auch unter der Diktatur der Baath-Partei und Saddam Husseins. Die Diktatur unterdrückte Sunniten und Schiiten gleichermaßen, ohne dass das Bekenntnis dabei wichtig war. Soziologische Untersuchungen weisen aber aus, dass rund zwei Drittel der Bevölkerung sich immer noch eher als Iraker denn als Sunniten oder Schiiten verstehen; dieser Anteil ist seit 2004 – dem ersten Jahr nach Saddam Hussein – sogar stark angestiegen. Nur unter den Kurden bleibt die Identifikation als Iraker hinter der als Kurden zurück, dort allerdings sehr weit, wie der an der Universität von Michigan lehrende Mansoor Moaddel kürzlich hervorhob.

Die Daten entstammen allerdings Umfragen und Untersuchungen, die vorwiegend in den Städten unter religiös weniger engagierten Bewohnern vorgenommen wurden. Doch haben Propagandisten verschiedenster Parteien, sobald diese nach dem Sturz der Diktatur und unter dem Besatzungsregime sich entwickeln konnten, sich auch konfessioneller Argumentationen bedient. Seit die Baath-Regierung nach der ersten US-Intervention von 1991 einen Aufstand im schiitisch geprägten Süden des Landes niederschlug, dem die US-Regierung unter George Bush die versprochene Unterstützung verweigerte, und nachdem sie Zehntausende Schiiten über die Grenzen nach Iran vertrieb, sind deren Exil-Parteien zu politischen Faktoren geworden. Die US-Besatzung tat ein übrigens: Die Klassifizierung der Iraker als Sunniten, Schiiten, Kurden oder Sonstige ist ihr Werk.

Ein Ergebnis der ersten Maßnahmen des „Vizekönigs“ L. Paul Bremer war die unterschiedslose und gründliche Entlassung der Armee und der Verwaltung. Damit wurden auf einen Schlag die zivilen und militärischen Funktionsträger, Spezialisten und Administratoren mit ihrer versammelten Fachkenntnis entlassen, Hunderttausende einfache Soldaten und Staatsbedienstete zusätzlich, sämtlich unter dem Pauschalverdacht, Baathisten und daher Diktaturgehilfen gewesen zu sein. Die ehemaligen Offiziers-Kader haben sich nun zum Teil zur ISIS gesellt, was die militärischen Qualitäten dieser militanten jihadistischen Organisation erklärt.

Nuri al-Maliki hat sich die sunnitische Minderheit fast systematisch zu Feinden gemacht. Als vor vier Jahren die US-Besatzung diesem schiitischen Fanatiker, Vertreter der Dawa-Partei, die Macht überließ, erwirkte er umgehend einen Haftbefehl gegen einen seiner gewählten Stellvertreter, einen Sunniten. Den Widerstand der sunnitischen Nomadenstämme in der Provinz Anbar ließ er von seiner neuaufgestelllten Armee zusammenschlagen. Mittlerweile hält nur noch eine Minderheit unter den irakischen Schiiten zu Maliki; und deren iranische Glaubensbrüder gehen eilig auf Distanz zu ihm. Die dritte Kraft – die durch Staatspräsident Talabani repräsentierten Kurden – entfremdete er auch ökonomisch durch den Dauer-Konflikt um die Ölfelder von Kirkuk. Im Juni scheint die kurdische Autonome Region sich diese endgültig gesichert zu haben.

ISIS – jetzt: „Kalifat“ – ist aus Terrorgruppen hervorgegangen, die seit der US-Invasion 2003 unter Berufung auf Al-Qaida im Irak auftraten. Ihrem Organisator Ahmad Nazzāl al-Chalaila, der sich Abu Musab az-Zarqawi (nach seinem Geburtsort Zarqa) nannte – er starb 2006 bei einem Angriff der US-Armee –, wurde bittere Feindschaft gegen alle Nichtgläubigen nachgesagt, auch gegen Schiiten; andere militante islamistische Gruppen in der Region streben hingegen Koalitionen mit schiitischen Militanten an. Die Organisation ist unter verschiedenen Namen bekannt: ISIL (Islamischer Staat in Irak und der Levante); AQI (Al Qaida in Irak), obwohl sie mit der Qaida im Streit liegt; Da’isch oder Daeesh (nach der arabischen Bezeichnung). Die Stärke der Organisation wird von verschiedenen Kennern der Region, Geheimdiensten und journalistischen Quellen höchst unterschiedlich eingeschätzt – zwischen tausend und 15.000 Mann. Ebenso unsicher sind die Schätzungen, welche die Aktivitäten der ISIS in Syrien betreffen.

Das „Kalifat“ hat Abu Bakr al-Baghdadi am 29. Juni 2014 ausgerufen und damit den Anspruch erhoben, als Kalif (Nachfolger des Propheten Mohammed) Befehlshaber der Muslime und oberster Führer des Staates Befehlshaber der Muslime und oberster Staatsführer zu sein. Er stammt wahrscheinlich aus der Umgebung der irakischen Stadt Samarra, war nach einigen Quellen zur Zeit der US-Invasion sunnitischer Geistlicher, beteiligte sich am Aufbau radikal-islamischer Widerstandsgruppen und soll um 2004 zeitweilig in US-Haft gewesen sein.

Gegen religiöse Minderheiten geht das „Kalifat“ mit brutaler Gewalt vor. In den jüngst von ihr eroberten Gebieten lebten u.a. Christen, die verschiedenen sehr alten Bekenntnissen angehören, und Jeziden, deren ebenfalls monotheistischer Glaube unter Kurden in Nord-Irak verbreitet ist. Islamistische Fanatiker nennen die Jesiden „Feueranbeter“. Das jesidische Siedlungsgebiet im Sindschar-Gebirge in der irakischen Provinz Niniveh (Ninawa) wurde vom „Kalifat“ im August eigenommen. Seitdem fürchten Jesiden die völlige Vernichtung.

Schon seit Ende Juni 2014 scheint die ISIS, wahrscheinlich gemeinsam mit einigen anderen Gruppen, das syrische Euphrat-Tal zu beherrschen. Die lange wegen ihres Kampfes gegen Baschar al-Assads Regierung auch von der Türkei unterstützte Nusra-Front ist dort von der ISIS geschlagen oder absorbiert worden. In die kurdischen Gebiete vorzudringen ist den Militanten anscheinend nirgends gelungen, dort stoßen sie ebenso auf Widerstand wie in Regionen, die von der Freien Syrischen Armee (also vom westlichen Ausland unterstützten Parteien im Bürgerkrieg) kontrolliert werden – in den dichter besiedelten Regionen Syriens und besonders in den Städten ist die syrische Regierung nach wie vor Vormacht.

In Irak hat sich hingegen die Armee beim ersten ernsthaften Angriff der Jihadisten auf Mossul, die drittgrößte Stadt des Landes, faktisch aufgelöst. Das hat zwei Hauptgründe. Erstens: Die Offiziere und Mannschaften sind nicht mehr bereit, für die Herrschaft Nuri al-Malikis zu kämpfen. Gegenoffensiven der Maliki-Armee blieben denn auch völlig wirkungslos. Zweitens: Mit der ISIS haben sich außer sunnitischen Stammesfürsten auch Soldaten und Offiziere der von der US-Besatzung aufgelösten Armee zusammengetan. Die sektiererische, einseitig auf die schiitische Dawa-Partei gerichtete Politik Nuri al-Malikis machte das Bündnis der Ex-Armee, ehemaliger Baathisten und Staatsfunktionäre mit den ISIS-Militanten erst möglich. Sie bringen administratives Wissen ein, das in den vom „Kalifat“ befriedeten Gebieten eine funktionierende Verwaltung hat entstehen lassen.

Nach Berichten von Augenzeugen ist die so entstandene Front militärisch und waffentechnisch der irakischen Armee überlegen. ISIS kann auf Beutewaffen, auch aus noch intakten Arsenalen der ehemaligen Armee, auf erhebliche Finanzmittel aus den Äraren der besetzten Städte und neuerdings Rohölverkauf sowie auf die Kampferfahrung ihrer eigenen Kader aus dem syrischen Bürgerkrieg zurückgreifen. Eine dauerhafte Allianz ist dies allerdings nicht. Kurz nach der Eroberung von Mossul und Tikrit sollen bereits zwei militante Gruppen den Verbund aufgekündigt haben – Milizen, die ursprünglich von ehemaligen Baath-Offizieren aufgebaut worden waren und als Nakschbandiye-Milizen bekannt wurden. Mit dem Sufi-Orden, einer weit verbreiteten mystischen Strömung, die sich ganz sicher nicht dem wahhabitischen Islam Saudi-Arabien zuordnen lässt, haben sie allerdings nicht viel gemein. Es sind eher säkulare Kräfte, wahrscheinlich mit einem Hintergrund in den Republikanischen Garden, die als Elitetruppe des Baath-Regimes galten, während der US-Invasion aber quasi lautlos verschwunden sind.

Auf diesem Hintergrund scheint lediglich die iranische Regierung ein klares Bild der Lage und demgemäß eine klare Linie entwickelt zu haben: Politische, aber (noch) nicht militärische Unterstützung der Bagdader Regierung – am liebsten ohne Al-Maliki –, taktische Zusammenarbeit mit den USA, um en passant eine Einigung über das zivile Atomprogramm zu erreichen, Anwerbung möglichst vieler Partner auch gegen die petrofeudalen Emirate am Golf und gegen Saudi-Arabien. Denn diese finanzieren ISIS und andere solche Verbände, verschaffen ihnen eine Rechtfertigungsideologie und schleusen Menschen und Waffen zu ihnen. Möglicherweise auch deutsche „Kleinwaffen“, die zu exportieren die Große Koalition ja erlaubt hat. Waffen, die im Kleinkrieg (spanisch: Guerilla) besonders geeignet sind.

Karl Grobe ist Autor des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de. Er war leitender außenpolitischer Redakteur der Frankfurter Rundschau.


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