Reiner Bernstein

Verzweiflung, Apathie und Überlebenskampf

Zur politischen Bedeutung der israelischen und der palästinensischen Zivilgesellschaft

07.09.2012 - Am 03. September 2012 berichtete Amira Hass in der Tageszeitung Haaretz (Das Land), dass die Befürworter eines Kulturboykotts gegen Israel die Herstellung eines Dokumentarfilms für Arte mit dem Titel 24 Stunden in Jerusalem auf palästinensischem Druck hin gestoppt haben. Da der Film den Eindruck einer Normalisierung des Verhältnisses zwischen Freund und Feind hinterlasse, seien die Aufnahmen zumindest vertagt. Vorgesehen war die Mitwirkung eines Aktivisten im von Siedlern beanspruchten Stadtbezirk Silwan, eines Bewohners im Flüchtlingslager Shuafat im Norden der Stadt, eines Parlamentariers der Hamas in Ramallah sowie eines Mannes, dessen Haus wegen der Trennungsmauer in zwei Teile zerrissen wurde. Amira Hass zitierte den palästinensischen Filmemacher Daud Kuttab mit den Worten, die arabischen Einwohner Jerusalems seien die Verlierer der Aufschiebung, weil der Film Tausenden Menschen in Europa ihre schwierige Lage vor Augen geführt hätte. Kuttab verwahrte sich gegen intellektuellen Terror.

Vor einem dreiviertel Jahr, am 13. Dezember, scheiterte in Ost-Jerusalem ein Treffen, auf dem eine israelisch-palästinensische Konföderation auf der Basis zweier Staaten auf der Tagesordnung stehen sollte, an Protesten palästinensischer Demonstranten. An der Zusammenkunft sollten der Präsident der Al-Quds University Sari Nusseibeh, der frühere israelische Außenminister Shlomo Ben-Ami, Uri Avnery und weitere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens teilnehmen.

Traditionslinien und Brüche

Vor dem Hintergrund beider Vorgänge lesen wir die Beiträge namhafter palästinensischer und israelischer Wissenschaftler, Autoren und Publizisten in der jüngsten Ausgabe des Palestine-Israel Journal, das sich in der Tradition der von Martin Buber und gleichgesinnten Freunden begründeten Zeitschrift New Outlook unter Leitung von Simha Flapan¹ und David Shaham sieht. Nach der Prinzipienerklärung von 1993 wurde ihr Erscheinen mit Begründung eingestellt, die Aussicht auf den Frieden zwischen beiden Völkern mache die Publikation überflüssig.

Ziad AbuZayyad und Hillel Schenker, die schon damals dabei waren, firmieren als Herausgeber des Journal. Es wurde – wie um erste Zweifel zu dokumentieren – 1994 begründet und zählt zu seinen Unterstützern Ron Pundak, Saman Khoury, Danny Rubinstein, Walid Salem, Galia Golan, Nazmi Jubeh, Gershon Baskin, Dan Jacobson, Moshe Maoz, Lucy & Sari Nusseibeh, Hanna Siniora, Mahdi Abdul-Hadi, Hanan Ashrawi, Naomi Chazan, John Bunzl (Wien), Yael Dayan, David Grossman, Rashid Khalidi (New York), Tony Klug (London) und Yezid Sayigh (Beirut). Ihr Bemühen um eine Friedensregelung ist nicht geringer geworden, wohl aber ihre Hoffnung auf ihre Besiegelung.

Dass es beide Zivilgesellschaften mit ganz unterschiedlichen Realitäten zu tun haben, betont AbuZayyad bereits im Editorial, wobei er von den israelischen Partnern eine klare Position … gegen die Praktiken ihrer eigenen Regierung verlangt. Schenker nimmt diese Kritik auf, wenn er palästinensischen Forderungen nach der Unterstützung genereller BDS-Kampagnen – Boykott, Divestment und Sanktionen – entgegenhält, dass sie die beste Methode seien, die Öffentlichkeit in die Arme der Regierung Netanjahus und ihrer Parole Die ganze Welt ist gegen uns zu treiben. Die BDS-Forderung in Verbindung mit dem Ruf nach einem gemeinsamen Staat für Araber und Juden gebe den israelischen Friedensaktivisten endgültig den Rest – es sei denn, das Programm lege es darauf an, Israel zur Zwei-Staaten-Lösung zu zwingen, wird Norman Finkelstein zitiert.

Die heute am Interdisciplinary Center in Herzliya lehrende Politologin Galia Golan verhehlt nicht die geringe Eindeutigkeit öffentlichkeitswirksamer Aktionen, nachdem es die Regierung in Jerusalem und die ihr nahestehenden Einrichtungen geschafft haben, die Kraft der Menschenrechtsgruppen so zu schwächen, dass ihre einstigen Anhänger in die Verzweiflung oder in die Apathie geflüchtet seien – eine Einschätzung die Meir Margalit, Meretz-Mitglied im Jerusalemer Stadtrat, mit dem selbstkritischen Hinweis bestätigt, dass alle Bemühungen, die auf das Ende der Besatzung angelegt sind, mehr denn je gescheitert sind. Von den Sozialprotesten seit dem Sommer 2011 in Tel Aviv und anderswo sollte man nicht zu viel erwarten: Von einer politischen Bewegung sind sie weit entfernt.

Wenig zu lesen ist über die politischen Versäumnisse und Fehleinschätzungen in der palästinensischen Öffentlichkeit, die seit der Ära Yasser Arafats unter dem Druck der dortigen Sicherheitskräfte steht – und deren Aufbau aus deutschen Haushalten mitfinanziert wurde. Dennoch kann die Frage nicht außen vor bleiben, warum den Palästinensern im Gegensatz zu den arabischen Nachbarvölkern die Staatsbildung missglückt ist².

Dass die von Hamas geführte Regierung im Gazastreifen jetzt einen eigenen diplomatischen Dienst zur Pflege der internationalen Beziehungen aufbauen will³, trägt nicht gerade zum Vertrauen in die Ernsthaftigkeit der gesamtnationalen palästinensischen Ansprüche bei. Auch in Jerusalem scheint sich unter der dortigen arabischen Bevölkerung eine neue Variante palästinensischer Identität zu entwickeln, die sich von der Westbank und vom Gazastreifen absetzen will 4.

Existence is resistance

Die rund 40.000 NGO’s in Israel im Spektrum von Politik, Umwelt, Armut, Bildung und women’s empowerment lassen kaum ein Prioritäten-Management zu und müssen sich zudem gegen den Ruf als Friedensindustrie wehren. Tatsächlich kollidiert das Gefühl der moralischen Dringlichkeit einer Friedensregelung mit Bedürfnissen nach einem Leben des tagtäglichen Auskommens, mit der Sorge um die Familie gegenüber Demütigungen und Repressalien an den Checkpoints, mit der Einschränkung von Bewegungsfreiheit, mit der wirtschafts- und geldpolitischen Abhängigkeit von Israel sowie mit dem Kampf um den Zugang zu landwirtschaftlichen Nutzflächen. Diese strangulierenden Wirkungen der Okkupation stehen der Bildung einer politisch gesunden Zivilgesellschaft im Wege. Nach innen wie nach außen geht es den Menschen um die Strategie des schieren kollektiven und individuellen Überlebens als dinghafte Form des Widerstandes.

So kommen die Autoren über Appelle zur Entwicklung neuer Konzepte und Ideen, zur Intensivierung des politisch-intellektuellen Dialogs und zur Vermehrung vertrauensbildender physischer Interaktionen nicht hinaus – als ob dies, und zwar mit kräftigen Finanzhilfen der Europäischen Union und der US-Agency for International Development (USAID), in den vergangenen Jahrzehnten versäumt worden sei. Inzwischen freilich achten die auswärtigen Finanziers sehr wohl darauf, dass ihre Zuwendungen sinnvoll sind und dem schnellen Verdacht der Einmischung in innere Angelegenheiten hier wie dort entgehen.

Schließlich: Es fällt auf, dass die seit den 1970er Jahren gefällte Entscheidung fortlebt, die arabischen Staatsbürger Israels nicht am politischen Diskurs zu beteiligen, obwohl das Ende des Konflikts ohne sie ausgeschlossen ist. Auch diesmal befindet sich unter den Autoren der Zeitschrift kein Palästinenser aus Israel. Schon die friedenspolitische Blaupause der Genfer Initiative von 2003 glaubte auf sie verzichten zu können.

¹ Von Simha Flapan, der 1987 in Israel starb, stammt das Buch Die Geburt Israels. Mythos und Wirklichkeit (München 1988).

² Diese Frage hat besonders Rashid Khalidi in seinem Buch The Iron Cage. The Story of the Palestinian Struggle for Statehood (Boston 2006), aufgeworfen.

³ Saleh Al-Naami: Hamas seeks to enter the world of diplomacy, via www.asharq-e.com 05.09.2012.

4 Dazu Nir Hasson: Palästinensischer Zionismus, in Haaretz 04.09.2012 in der Menüleiste Berichte aus Nahost der Homepage www.reiner-bernstein.de.

Quelle: Civil Society Challenges 2012, in Palestine-Israel-Journal of Politics, Economics and Culture 18(2012)2&3.

Dr. Reiner Bernstein ist Autor des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


World Wide Web aixpaix.de

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