Reiner Bernstein

Sari Nusseibeh in Hohenems

4. Juli 2013

Es war ein bemerkenswerter Auftritt: Sari Nusseibeh stellte am 02. Juli im Jüdischen Museum Hohenems (Vorarlberg) sein politisches Konzept vor. Unter der Überschrift Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost beleuchtete der Professor für Philosophie und Rektor der Al-Quds University in Abu Dis vor den Toren Jerusalems seinen politischen Werdegang vom bewussten jordanischen Staatsbürger – sein Vater Anwar war mehrfach Minister in König Husseins Kabinetten – über seine Sympathien für ein Gemeinwesen von Arabern und Juden im historischen Palästina bis zu seinem Bekenntnis zur Zwei-Staaten-Lösung und zuletzt seiner Alternative, die er in seinem zum Nachdenken anregenden Buch What Is a Palestinian State Worth? (Deutsch 2012 mit dem Titel seines Hohenemser Vortrags) niedergelegt hat. Nusseibeh knüpfte damit an sein 2007 erschienenes autobiographisch geprägtes Buch Once Upon a Country (Deutsch 2008 unter dem Titel Es war einmal ein Land. Ein Leben in Palästina) an.

Der Sohn einer führenden palästinensischen Familie, geboren 1949 in Damaskus, war in der ersten Intifada Mitglied im Nationalen Führungskader der PLO, hatte sich unter dem legendären Haydr Abd Al-Shafi an der Vorbereitung der internationalen Friedenskonferenz in Madrid im Herbst 1991 beteiligt, begleitete mit Skepsis die Osloer Vereinbarungen von 1993 und 1995, trat im November 2001 als Jerusalem-Beauftragter Arafats in die Fußstapfen des im Mai zuvor plötzlich verstorbenen und unvergessenen Faisal Husseini und legte gemeinsam mit dem ehemaligen israelischen Geheimdienstchef Ami Ayalon 2002 eine Friedensinitiative vor, die binnen Kurzem politisch verlosch. Dazwischen lag seine Beteiligung an Versuchen, Kontakte und Verbindungen zu Israelis aus der zionistischen und nicht-zionistischen Friedensszene zu vermitteln.

Das Problem als Problem identifizieren

Will man Nusseibehs Ausführungen in Hohenems in einem Satz zusammenfassen, so lautet sein Credo das Problem als Problem identifizieren. Gemeint ist damit der notwendige Abschied von den endlosen vergeblichen Schleifen der Regierenden in nah (Arabische Friedensinitiative) und fern (Road Map des Nahost-Quartetts), auf das Ende der israelisch-palästinensischen Konfrontation zu dringen. Insofern erschien es folgerichtig, dass der Vortragende die Namen Netanjahu, Abbas und Obama nur am Rande erwähnte, nachdem er mehrfach ausführlich und zustimmend auf Meron Benvenistis West Bank Data Project Bezug genommen hatte. Der Jerusalemer Soziologe hatte bereits 1985/86 die israelische Besatzung als irreversibel bezeichnet.

Deshalb blieb Nusseibehs Anerkennung auch für die jüngste Pendelmission John Kerrys und für den kontinuierlichen Einsatz Europas aus. Wie vor ihm James Baker Anfang der 1990er Jahre und Joe Biden 2010 reiste Kerry Ende Juni aus Amman, Ramallah und Jerusalem mit der israelischen Ankündigung ab, fast tausend neue Wohneinheiten auf dem Mauerberg (Har Homa) nördlich von Bethlehem errichten zu wollen.

Jüngstes Beispiele: Ägypten und Libanon

Nachfragen aus dem Publikum nach der politischen Relevanz auswärtiger Friedensbemühungen lösten bei Nusseibeh demgemäß ein ermattetes Lächeln aus. Dass die deutsche Bundesregierung, vertreten durch Guido Westerwelle, den Sturz Mohamed Mursis unter Verweis auf dessen Wahlerfolg als einen Rückschlag für die Demokratie benotete, ohne zu bedenken, dass in seiner einjährigen Regentschaft gemäß amnesty international Tausende Landsleute in Gefängnissen verschwanden und gefoltert wurden, stützt Nusseibehs spürbare Zurückhaltung gegen den internationalen rhetorischen Aktionismus ebenso wie die Drohung Washingtons, Ägypten die Militärhilfe von 1,3 Milliarden Dollar zu streichen. Unter dem Druck der eigenen Straße ging der türkische Ministerpräsident Recep Tayyib Erdogan gar so weit, gegen den Putsch des Militärs in Kairo zu protestieren – er könnte ja auch ihn treffen.

Sind Mursi und seine Moslembrüder zu natürlichen Verbündeten aufgestiegen? Wie lange lässt sich die Blockade des Gazastreifens rechtfertigen? Haben die Millionen jubelnden Ägypter, die dem bisherigen Präsidenten 2011 ihr Vertrauen schenkten, nicht das Recht auf politischen Widerruf? Sind allein Wahlen der Ausweis für die Demokratie?

Zum Abschluss seines Besuchs in Beirut hat John Kerry am 01. Juli die starke und dauerhafte Verpflichtung der USA für die Stabilität, die Souveränität und die Unabhängigkeit Libanons unterstrichen. Ob sich der Chef des State Department der historischen Grundströmungen bewusst ist, die seiner Zusage den Boden entziehen könnten?

Historische Grundströmungen

Für das Scheitern der internationalen Diplomatie macht Nusseibeh historische Grundströmungen aus, die das eine um das andere Mal das politische Handeln auswärtiger Mächte unterlaufen würden. Nachdem die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung darauf bedacht sein müsse, für ihren täglichen Lebensunterhalt zu sorgen (wozu auch relativ gut bezahlte Einkommensquellen in den jüdischen Siedlungen gehören), bleibe für politisches Engagement wenig Raum – und wenn, dann werde es marginalisiert oder gar unterdrückt. Umfragen deuten auf die wachsende Zahl derer hin, die auf den Zeitfaktor für die Realisierung ihrer kollektiven Würde setzen, und zwar im endlichen Rahmen eines arabisch-jüdischen Gemeinwesens zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan.

Dieser Ansatz ist die Quintessenz der Argumentation Nusseibehs, wobei er einen Schritt zurückgeht und den Palästinensern im Rahmen eines solchen Ergebnisses empfiehlt, auf allen bürgerlichen Rechten auf gesamtstaatlicher Ebene zu bestehen, aber zumindest vorerst auf die Realisierung politischer Ambitionen, so auf die Beteiligung an Wahlen, zu verzichten. Auch hier würden die historischen Grundströmungen eines Tages für einen Wandel sorgen.

Abgesehen davon, ob sich die Mehrheit der Palästinenser für eine Vision erwärmen lässt, die auf einen politischen Sekundärstatus hinausläuft, wirft Nusseibehs Konzept zumindest drei zentrale Probleme auf:

– Welche Relevanz besitzt die Einstaatlösung unter den Bedingungen der Umbrüche und Revolutionen in der arabischen Nachbarschaft? Weder Israelis noch Palästinenser dürften sich für einen gemeinsamen Staat erwärmen, während in anderen Teilen des Nahen Ostens die staatlichen Ordnungen zu kollabieren drohen.

– Als aufgeklärter Muslim mit der Vertrautheit säkularer Kulturen des Westens kommt bei Nusseibeh der Einfluss radikaler Strömungen im palästinensischen Islam und im israelischen Judentum entschieden zu kurz. Während man den Aufstieg des Islamismus, dem das Bekenntnis zur Demokratie fremd ist, noch als Folge des dauerhaften Besatzungsregimes deuten mag, hat der Soziologe Menachem Friedman für Israel bereits vor zwei Jahrzehnten eine tödliche Mischung aus Religion und Politik festgestellt. Der Einblick in die von Friedman konstatierte kompromisslose Präzision ultraorthodoxer Kreise, verstärkt durch nationalistische Hasardeure, dürfte kaum an der Schlussfolgerung vorbeikommen, wonach das Finale eines gemeinsamen Staates chancenlos ist – es sei denn, dass sich Verfassungsnormen entwickeln lassen, die strikte Souveränitätsansprüche erfüllen müssten, womit die politische Handlungsfähigkeit einer gemeinsam getragenen Zentralgewalt von vornherein schwer belastet wäre. Das in Hohenems wieder einmal das Wort vom jüdischen Staat als legitime Ausdrucksform politischer Souveränität auftauchte, ist überdies kein Kavaliersdelikt.

– Der gemeinsame Staat kann nicht die Ungleichgewichte zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung auf den Feldern der Wirtschafts- und Sozialpolitik beiseite wischen. Massive Anpassungen wären die Voraussetzung für ein Leben in Koexistenz.

Keine Fortsetzung ineffektiver Politik

In Ergänzung zu den Ausführungen Nusseibehs sei der Hinweis erlaubt, dass die internationale Diplomatie viel stärker als bisher die Entwicklung demokratischer und liberaler Kräfte in beiden Zivilgesellschaften zwecks Förderung der kommunalen Selbstverantwortung und Einhaltung des Grundrechtskatalogs ins Auge fassen muss, und zwar unter politisch unabhängiger Aufsicht, die kulturspezifische Besonderheiten zu respektieren hat. Was der politische Westen in anderen Teilen der Welt wie selbstverständlich tut, muss auch für Israel/Palästina gelten.


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