Judith Bernstein

Befreiung von Auschwitz – Was die Enkelgeneration heute bewegt

27.01.2015

„Auschwitz“ stand für mich, die nachgeborene Enkeltochter jüdischer Opfer, immer für das menschlich Unfassbare, aber auch für das abwesend Erlebte. Jenes zeigte sich darin, dass es viele Eltern wie die meinen nicht über sich brachten, über ihre ermordeten Angehörigen zu sprechen. Sie wollten uns nicht damit belasten, dass meine Großeltern von Erfurt aus Anfang März 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Vielmehr versuchten sie, unsere Kindheit so angenehm wie möglich zu gestalten. Stattdessen zog es meine Mutter vor, mich an ihrer Sehnsucht nach dem grünen bewaldeten Harz teilhaben zu lassen, den sie im Gegensatz zu der kargen Landschaft und der Hitze Palästinas so gemocht hatte. All das ist mir aus ihren Erzählungen in Erinnerung geblieben.

Dass auch die Jerusalemer Freunde aus Deutschland ihre Familienangehörigen zurücklassen mussten, nahmen wir Kinder kaum wahr. Erst als die Juden aus arabischen Ländern mit ihren Großfamilien in Israel einwanderten, wurde uns allen bewusst, dass zu einer Familie auch Großeltern gehören.

Nach der Gründung des Staates Israel spielte die „Shoah“ zunächst bei denen, die vor 1945 gekommen waren, keine so große Rolle; der Aufbau der eigenen Zukunft und des neuen Gemeinwesens standen im Mittelpunkt. Bei uns „Alt-Eingesessenen“ hing die Verdrängung auch damit zusammen, dass die Eltern sich aus Scham, überlebt zu haben, zurückhielten, dass wir noch nicht so viel über das schreckliche Ausmaß dieser Katastrophe wussten und dass es die ersten Regierungen darauf anlegten, dass das jüdische Schicksal der zweitausend Jahre alten Diaspora überwunden und eine neue, eine israelische Identität geschaffen werde. Anders mag es bei denen gewesen sein, die nach der Befreiung aus den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern mit schweren Traumata eintrafen.

Traumata und Gedenken

Wie tief jedoch die Katastrophe verankert blieb, wurde mir jedes Mal bewusst, wenn ich den jährlichen Erinnerungstag an den Holocaust miterlebte. Er findet kurz vor dem Gedenken an die gefallenen Soldaten aller Kriege kurz vor dem Unabhängigkeitstag im Mai statt. Ob die aus Europa Eingewanderten, die Aschkenasim, oder die aus arabischen und islamischen Ländern stammenden Juden, die Sfaradim: Das ganze Land steht minutenlang still, zeigt sich vereint in der Trauer und erinnert sich so intensiv, als ob die Tragödie erst gestern stattgefunden habe. Dass darüber die Flucht und die Vertreibung von etwa 750.000 Palästinensern – damals sprach man von „Arabern“ – der Preis für die eigene Staatsgründung waren, geriet in Vergessenheit.

Die Arbeiten der „neuen Historiker“ um Simcha Flapan, Benny Morris, Tom Segev und Ilan Pappe, welche die „Katastrophe“ („Nakba“) historisch aufgearbeitet haben, haben über den Kreis von Intellektuellen und der „academic community“ wenig bewirkt. Obwohl Israelis und Palästinenser auf engstem Raum zusammenleben, ist es bis heute geradezu erschreckend, wie wenig sie vom Alltag ihrer Nachbarn wissen. Für die einen sind die Terroristen, für die anderen Besatzer.

Mit der Erinnerung an die „Shoah“ verzeichnete die Politik erhebliche Erfolge, Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Seitdem der klassische Zionismus aus der britischen Mandatszeit und den Aufbaujahren nach 1948 der Vergangenheit angehört, ist die schlimmste Tragödie in der jüdischen Geschichte im israelischen Selbstverständnis fest verankert. Mittlerweile wird das Wissen den Kindern schon in den Kindergärten vermittelt und ist seit einiger Zeit noch einmal im Schulunterricht intensiviert worden. Denn nachdem es schwerfällt, dem palästinensischen Volk und ihrer Führung nach den Osloer Vereinbarungen von 1993 und 1995 Mordlust nachzusagen, sind das Nuklearprogramm des Iran und der jüngste Gaza- Krieg im Sommer 2014 als neue Versuche interpretiert worden, Israel zu vernichten.

Ich persönlich finde diese Entwicklung sehr traurig. Denn damit wird erstens eine negative Identität aufgebaut, wo doch das Judentum mehr zu bieten hat als den Holocaust, und zweitens habe ich das Gefühl, dass Israel damit in der Vergangenheit verharrt und seine Zukunft zu verspielen droht, wie das der frühere Knesset-Präsident Avraham Burg in seinem Buch „Hitler besiegen“ dargelegt hat.

Als ich während des Besuchs in Auschwitz-Birkenau einer Gruppe junger Israelis begegnete, die ohne Weiteres in Militäruniform auftraten und sich in die israelische Flagge hüllten, bewegten mich zwei widerstreitende Gedanken: Ist die Lehre von Auschwitz jene, dass die Juden immer Opfer bleiben sollen gemäß den Worten des Propheten Nehemia vom „Volk, das allein wohnt“? Legt es die israelische Politik darauf an, als Fremdkörper im Nahen Osten zu verharren? Ist damit der bis an die Zähne bewaffnete Staat Israel tatsächlich, wie behauptet, die Erfüllung der jüdischen Geschichte?

Die „Shoah“ gehört nach Europa, der israelisch-palästinensische Konflikt in den Nahen Osten

In öffentlichen Diskussionen in Deutschland sollten wir die Themen Holocaust und Nahost trennen, wenn sie aus Gründen der eigenen Unsicherheit, Befangenheit und Intoleranz oder der versuchten Manipulation auf die „Shoah“ zurückgreifen. Von einer „wissenden Unbefangenheit“ keine Spur, so der Jerusalemer Journalist Moshe Tavor. Dabei ist die aktuelle Lage im östlichen Mittelmeer schmerzlich genug, als dass der historische Rückgriff angebracht wäre – abgesehen von der intellektuellen und politischen Redlichkeit des Umgangs damit. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich ein großer Teil der (west-)deutschen Bevölkerung auf die Lektion besonnen, die vom Holocaust ausgeht. Heute dagegen ist es häufig üblich geworden, dass die einen den Unterdrückungsapparat und die Schandtaten des israelischen Militärs und vieler Siedler damit zu rechtfertigen suchen, dass sich Israel vor einem zweiten Auschwitz schützen müsse.

Andere Stimmen sehen in den Palästinensern, die „Opfer der einstigen jüdischen Opfer" und konstruieren ein Dreiecksverhältnis „Deutschland – Israel –Palästina“. Dabei gibt es viele Gründe für die Solidarisierung mit den Palästinensern, politische, humanitäre und völkerrechtliche, keine jedoch, die sich mit der „Shoah“ rechtfertigen lassen. Würden israelische Regierungen eine andere Politik gegenüber den Palästinensern betreiben, käme hierzulande niemand auf die Idee, von einer deutschen Verantwortung für die Palästinenser zu sprechen. Der gemeinsame Nenner besteht darin, dass sich beide Positionen mit ihrer Fixierung auf den Holocaust den Gesetzmäßigkeiten des nahöstlichen Konflikts verschließen, sie ausblenden, sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen oder sie sogar leugnen.

Kritik hinter vorgehaltener Hand

Deutsche Parlamentarier ihrerseits neigen quer durch die Parteienlandschaft dazu, ihre Kritik an der israelischen Politik hinter vorgehaltener Hand zu äußern und gleichzeitig so zu tun, als ob die

Fassungslosigkeit oder gar die mit aggressiven Tonlagen operierende scharfe Verdammung, die mittlerweile vor der Ablehnung des Existenzrechts Israels nicht haltmacht, sie nichts anginge. Mehr noch: Die von der Bundesregierung regelmäßig beschworene Verbundenheit mit dem Staat der Juden läuft heute darauf hinaus, dessen selbstzerstörerisches Handeln abzustützen. Doch wenn es stimmen sollte, dass „Hamas“ kein Partner für Israel sein könne, ist auch den Palästinensern nicht zuzumuten, mit einer Regierung zu verhandeln, die ihnen elementare Rechte verweigert. Eine an den nahöstlichen Triebkräften orientierte Debatte wird so lange auf schwachen Füßen stehen, solange die fahrlässige Gleichsetzung von berechtigter Kritik und Antisemitismus-Vorwurf anhält.

Die Beziehungen zwischen jüdischen Israelis und arabischen Palästinensern haben sich längst von der Katastrophe in Europa gelöst und unterliegen einer eigenen Dynamik: dem blutig eingefärbten Ringen um ein Land, auf das sie einen Alleinanspruch erheben. Auch wehre ich mich dagegen, dass das Andenken an meine Großeltern für eine bestimmte Politik missbraucht wird. Nicht zufällig haben wir in den vergangenen Monaten zusätzlich zum Holocaust den Ruf nach einer jüdischen Identität erlebt, die das Selbstverständnis Israels als säkularen und modernen Staat ablösen soll.

Ich verbringe jedes Jahr mehrere Wochen in Israel und in den palästinensischen Gebieten. Im Anschluss daran berichte ich gemeinsam mit meinem Mann Abgeordneten im Bundestag, Diplomaten im Auswärtigen Amt und Spitzenvertretern im Bundeskanzleramt. Vor allem sind wir davon überzeugt, dass alle anderweitigen bilateralen Kompromisse und Vereinbarungen – ob Grenzziehungen, Sicherheitsprobleme, die Beendigung des palästinensischen Flüchtlingselends und die Ressourcennutzung – ohne eine politische Regelung für Jerusalem keinen Bestand haben werden. Friedensgruppen in Israel und Palästina bemühen sich geradezu verzweifelt, dass die Angehörigen beider Völker endlich auf Augenhöhe zueinander finden. Wenn schon, dann haben sie die richtigen Lehren aus der Befreiung von Auschwitz und aus der Überwindung des westlichen Kolonialismus gezogen. Auch deshalb verdienen sie unsere Unterstützung.

Der Frieden als Signalwirkung

Der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern kann nicht sämtliche Konfliktherde in der Region beseitigen. Aber er dürfte eine Dynamik in Gang setzen, die den Extremisten den Boden für ihr Handwerk entzieht. Da beide Parteien aus eigener Kraft unfähig sind, Frieden zu schaffen, ist die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft gefordert, und zwar jenseits der Zusage weiterer Finanz- und technischer Hilfen sowie der Zusage der deutschen Staaträson, von der niemand genau weiß, wie sie im Ernstfall eingelöst werden kann. Schließlich liegt die israelisch- palästinensische Verständigung auch im eigenen Interesse. Nach Auschwitz bedeutet deutsche „Verantwortung", gegen Menschenrechtsverletzungen und Repression einzutreten.

In der Bundesrepublik halte ich erinnerungspolitisch die „Stolpersteine“ für die adäquate zentrale Form der Erinnerung an alle Opfer der Nazidiktatur ob Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, religiöse Christen, „Euthanasie"- Opfer oder politisch Verfolgte. Deshalb habe ich gemeinsam mit meinem Mann sieben Jahre lang die Bürgerinitiative zur Verlegung von „Stolpersteinen“ für Opfer des Naziregimes in München getragen, nachdem die Stadt im Juni 2004 die Verlegung auf öffentlichem Grund untersagt hatte. Die Überprüfung des Verbots soll im Frühjahr 2015 auf der Tagesordnung der Stadtverordnetenversammlung stehen.

Gegen eine Schlussstrich-Mentalität

Das Schicksal meiner Großeltern hat mich dazu bewogen, für die Rechte aller Unterdrückten einzutreten. Für mich gilt dies auch für die bei uns in der Bundesrepublik Schutzsuchenden aus Afrika und aus Asien und besonders für die Menschen in den Landstreifen am östlichen Mittelmeer, in den ich hineingeboren wurde. Deshalb wehre ich mich gegen jene „Schlussstrich-Mentalität", die sich bei deplatzierten Reaktionen auf die NSU-Morde, die augenscheinlich auch bei deutschen Behörden gängig ist, und jüngst bei Menschen zeigt, die mit Parolen wie „Wir sind das Volk“ durch unsere Städte marschieren. Ist vergessen worden, was Ausgrenzung und um das nackte Leben zu kämpfen bedeutet?

Gegen Fremdenhass, Antisemitismus und Islamophobie muss nachdrücklich Sorge getragen werden. Es kann nicht sein, dass uns das Schicksal von Flüchtlingen, die unter Lebensgefahr heute nach Deutschland kommen, gleichgültig lässt oder gar zu verächtlichen Reaktionen verleitet. Haben wir vergessen, was es bedeutet, seine Angehörigen und sein gesamtes Hab und Gut zu verlieren? Sollen Menschen, die von mörderischen Islamisten in ihren Heimatländern verfolgt werden, keinen Respekt genießen dürfen, nur weil sie Moslems sind? Wir sollten uns daran erinnern, dass noch im 20. Jahrhundert viele tausend Deutsche, wenn nicht aus politischen, so doch aus Gründen von Hungersnot und Verzweiflung in die weite Welt gezwungen wurden.

Die Befreiung von Auschwitz muss als immerwährende Mahnung bedeuten, jenen zu widerstehen, die anderen Menschen aus ideologischen und sonstigen Gründen Leid zufügen.

Judith Bernstein wurde 1945 als Tochter jüdischer Eltern, die während des Naziregimes aus Deutschland fliehen mussten, in Jerusalem geboren. Die Großeltern wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Dieser Beitrag wurde im Herbst 2014 von der Konrad-Adenauer-Stiftung für ihre Zeitschrift „Die politische Meinung“ erbeten. Am 20. Januar 2015 erhielt ich die schriftliche Mitteilung, dass der Beitrag „interne Debatten um die politischen Implikationen“ ausgelöst habe, „die möglicherweise Missverständnisse im Bezug auf die Intentionen der Konrad-Adenauer-Stiftung hervorrufen könnten“. Mit dieser politisch erstaunlichen Begründung, die der hervorragenden Seminar- und Publikationsarbeit der Stiftung in Israel und in Palästina ein schlechtes Zeugnis ausstellt, wurde die Veröffentlichung des Beitrages abgelehnt.

Der Haupttitel wurde von der Redaktion vorgegeben. Die Zwischenüberschriften wurden nachträglich ergänzt.


World Wide Web aixpaix.de

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