Projekt Münchhausen

Hannes Wader

Es ist an der Zeit

Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.

Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.

Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.

Otmar Steinbicker

Die Lüge von der „Nachrüstung“

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Als „Nachrüstungs“-Beschluss ist in der deutschen Öffentlichkeit der Beschluss der NATO vom 12.12.1979 geläufig, der die Aufstellung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern (Cruise Missiles) in der Bundesrepublik und weiteren Ländern Westeuropas beinhaltete.

Die „Nachrüstung“ gehört nicht in den Bereich der plumpen, sondern in den Bereich der geschickten Lügen, nämlich solcher, die geschickt mit Halbwahrheiten operieren. Eine Lüge bleibt sie dennoch. „Nachrüstung“ beinhaltet per definitionem die „Vorrüstung“ der anderen Seite. Eine kecke Behauptung, die allerdings in der Konfrontation des Kalten Krieges von zu vielen nur allzu gern geglaubt wurde. „Wenn die anderen vorrüsten, dann müssen wir natürlich nachrüsten, was auch sonst“, lautete deren gängige Argumentation.

In der Sache ging es um die Problematik von Atomraketen mittlerer Reichweite also zwischen 1000 und 5.500 Kilometern Reichweite. Über solche verfügten damals die USA, die UdSSR, Großbritannien und Frankreich.

Die Behauptung lautete: die UdSSR habe in diesem Bereich „vorgerüstet“, also müsse die NATO leider nachziehen.

Die Fakten sahen allerdings anders aus. Im Atomwaffensperrvertrag von 1968 hatten sich die Atomwaffen besitzenden Mächte zum Abbau aller Atomwaffen verpflichtet. Im SALT-I-Vertrag von 1972 vereinbarten die USA und die UdSSR Obergrenzen bei strategischen Atomwaffen. Die atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen blieben ausgeklammert. 1976 erreichten die Außenminister Henry Kissinger und Andrei Gromyko einen Kompromiss über die Einbeziehung von Mittelstreckenwaffen in das SALT-II-Abkommen. Doch US-Präsident Gerald Ford lehnte ab.1]

Erst danach begann die UdSSR ihre älteren gegen Westeuropa gerichteten R-12- und R-14-Raketen allmählich gegen modernere RSD-10-Raketen (im Westen „SS 20“ genannt) auszutauschen. Diese hatten eine Reichweite bis 5000 km, eine hohe Zielgenauigkeit und wurden mit je drei atomaren Mehrfachsprengköpfen bestückt. Die UdSSR begründete ihren Schritt mit der Existenz der Atomwaffen Großbritanniens und Frankreichs mit vergleichbarer Reichweite.

Wie immer man die damals kursierenden unterschiedlichen Vergleichsrechnungen nach Raketen, nach Sprengköpfen oder nach Megatonnen Sprengkraft bewertet, eines war klar: Mit Raketen dieser Reichweite bedrohte die UdSSR die Verbündeten der USA in Westeuropa, nicht jedoch die USA selbst. Die Atomraketen Großbritanniens und Frankreichs bedrohten auch die UdSSR. Auf europäischem Boden waren zu dieser Zeit jedoch keine Atomwaffen der USA stationiert, die die UdSSR bedrohten. US-Raketen, die ehedem in der Türkei stationiert waren und diese Fähigkeit besaßen, waren im Zuge der Beilegung der Kubakrise abgebaut worden. In Kuba hatte die UdSSR damals versucht, Atomraketen zu stationieren, was in den USA als eine erhebliche Bedrohung angesehen wurde.

Nach der Kubakrise 1962 erklärte der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt treffend: „Die Ausstattung der Bundesrepublik mit nuklearen Raketen, die Leningrad oder Moskau in Schutt und Asche legen können, müsste die Sowjetunion in der gleichen Weise provozieren, wie etwa die Ausstattung Kubas mit derartigen Raketen die USA herausfordern musste.“2

Genau das aber wurde mit der angeblichen „Nachrüstung“ bezweckt: eine Bedrohung der politischen und militärischen Zentren der UdSSR mit in Europa stationierten Atomwaffen vom Typ Pershing II und Cruise Missiles.

Da ging es dann nicht um Raketenzahlen, sondern um völlig andere strategische Optionen. Im Bereich der Interkontinentalraketen gab es ein Patt und da galt die Devise: „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“. Wer einen Atomkrieg gewinnen wollte, brauchte eine neue Option. Im Dezember 1980 hielten die Pentagon-Berater Colin S. Gray und Keith Payne in einem Aufsatz unter dem Titel „Sieg ist möglich“ einen atomaren Überraschungsangriff der USA mit dem Ziel, die politisch-militärische Führung der Sowjetunion auszuschalten, für Erfolg versprechend.3

Folgerichtig schrieb der Autor Colin S. Gray 1982 im Air Force Magazin: „Der NATO-Plan, 108 Pershing II und 464 landgestützte Cruise Missiles zu stationieren, beabsichtigt nicht, ein Gegengewicht gegen die SS 20 zu schaffen… Die NATO braucht eine gute Anzahl dieser 572 Startrampen, ob nun die Sowjetunion ihre SS-20 bis auf Null abbaut oder nicht.“4

Die Pershing-II-Raketen wären womöglich für einen solchen atomaren Überraschungsangriff geeignet gewesen. Sie waren mit einer Vorwarnzeit von 4-5 Minuten (gegenüber 20 Minuten bei Interkontinentalraketen) extrem schnell und mit einem speziell gehärteten Sprengkopf auch geeignet, gegen Bunker eingesetzt zu werden. Ob das Szenario eines „Sieges“ im Atomkrieg aufgegangen wäre, war allerdings eine andere Frage.

Schließlich gab es neben vielen weiteren einen besonderen Risikofaktor: eben jene extrem kurze Vorwarnzeit. Wie würde sich gegebenenfalls die sowjetische Führung in einem Alarmfall entscheiden? Und wie konnte sie sich sicher sein, dass es sich um einen echten und nicht um einen Fehlalarm handelte, wenn sie in Blitzesschnelle entscheiden müsste, Atomwaffen einzusetzen oder nicht.

Befürworter der „Nachrüstung“ mussten sich denn auch schon mal an Infoständen der Friedensbewegung einen „unerschütterlichen Glauben an die Unfehlbarkeit sowjetischer Computertechnik“ vorwerfen lassen. Denn wie anders als mit unfehlbarer Computertechnik sollte ein echter von einem Fehlalarm zu unterscheiden sein?

Selbstverständlich verfügten weder die USA noch die UdSSR über eine solche unfehlbare Technik. Über Fehlalarme in den USA gab es schon Anfang der 1980er Jahre mehrere Berichte. Am 26.9.1983 gab es einen solchen Fehlalarm auch in der UdSSR, der allerdings erst in den 1990er Jahren bekannt wurde. Dieser bezog sich auf vermeintliche Raketenstarts in den USA.5 Der Bundestag stimmte erst am 22.11.1983 der Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles zu. Parallel mit deren Stationierung verlegte auch die UdSSR mehr Atomwaffen auf Territorien ihrer Bündnispartner, darunter auch in die DDR.

Nach der angelaufenen Stationierung es erst ab 1985 wieder ernsthafte Verhandlungen über die Mittelstreckenraketen. Am 8.12.1987, fast auf den Tag genau acht Jahre nach dem fatalen „Nachrüstungs“-Beschluss, unterzeichneten US-Präsident Ronald Reagan und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow den INF-Vertrag zum weltweiten Abbau all ihrer atomaren Kurz- und Mittelstreckenraketen und der zugehörigen Trägersysteme. Bis 1990 wurde dieser Vertrag umgesetzt und diese Waffen vernichtet.

1 Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch Internationale Politik. Bonn 2000, ISBN 3-89331-489-X, S. 359.

2 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-64385822.html

3 Colin S. Gray, Keith Payne (Foreign Affairs, Dezember 1980): Victory is possible (englisch, PDF), http://home.earthlink.net/~platter/articles/80-summer-payne.html

4 zitiert nach Till Bastian (Hrsg.): Ärzte gegen den Atomkrieg. Wir werden Euch nicht helfen können. Pabel-Moewig, 1987, ISBN 3-8118-3248-4, S. 9.

5 http://de.wikipedia.org/wiki/Stanislaw_Jewgrafowitsch_Petrow

Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


World Wide Web aixpaix.de

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Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.

Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.

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