Projekt Münchhausen

Hannes Wader

Es ist an der Zeit

Weit in der Champagne im Mittsommergrün,
dort wo zwischen Grabkreuzen Mohnblumen blühn,
da flüstern die Gräser und wiegen sich leicht,
im Wind der sanft über das Gräberfeld streicht.

Auf deinem Kreuz finde ich toter Soldat,
deinen Namen nicht, nur Ziffern und jemand hat die Zahl 1900 und 16 gemalt und du warst nicht einmal 19 Jahre alt.

Ja auch dich haben sie schon genauso belogen, so wie sie es mit uns heute immer noch tun.
Und du hast ihnen alles gegeben, deine Kraft, deine Jugend, dein Leben.

Henning Melber

Der Völkermord an den Herero und Nama in „Deutsch-Südwestafrika“ (1904-1907) als zivilisatorische Maßnahme

Bis heute verweigert jede Bundesregierung das Eingeständnis, dass während der deutschen Kolonialherrschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts im heutigen Namibia unter Teilen der dortigen Bevölkerung ein Genozid begangen wurde. Einzig die damalige Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, bekannte sich anlässlich einer Gedenkfeier im August 2004 vor Ort zu der Schuld, dass seinerzeit die deutsche Kolonialmacht koloniale Gräuel verübte, die nach heutigem Verständnis einem Völkermord entsprachen. Sie machte diese Aussage am Waterberg, einhundert Jahre nach den dortigen Kämpfen zwischen Herero und der deutschen Kolonialarmee.

In der Bundesrepublik wurde die Ministerin dafür scharf kritisiert. Die Bild-Zeitung warf ihr weiblich-emotionale Leichtfertigkeit vor, die angesichts drohender Entschädigungsleistungen den deutschen Staat teuer zu stehen kommen könnte. Dabei hatte die Ministerin in ihrer Rede um Vergebung der Schuld im Sinne des Vaterunsers gebeten. Sie hielt sich damit im juristischen Sinne an die Vorgaben des Grünen-Außenministers Joschka Fischer. Dieser hatte „keine entschädigungsrelevante Entschuldigung“ zur unrühmlichen Handlungsrichtlinie erklärt und damit unterstrichen wes Geistes Kind die vermeintlich alternative grüne Regierungspolitik war.

Seither wird weiterhin der Völkermord in den mittleren, östlichen und südlichen Landesteilen der damaligen Kolonie von der offiziellen deutschen Regierungspolitik herunter gespielt. Schlimmer noch treiben es die kolonialapologetischen Kreise der Ewiggestrigen, die noch immer die koloniale Unterwerfung als zivilisatorische Errungenschaft feiern. Die beharrliche Weigerung, sich dem Geschehen von damals zu stellen, zeigt die Verlogenheit einer Doppelmoral. Diese tut, als ob es vor dem Holocaust des Nazi-Regimes eine „gute alte Zeit“ gegeben habe. Dabei haben kolonialhistorische Forschungen schon längst den Nachweis einer erbarmungslosen kolonialen Vernichtungsstrategie erbracht, in der schon Hannah Arendt die Ursprünge totaler Herrschaft erkannte.

Die an der preußisch-deutschen Militärdoktrin orientierte Vernichtungsstrategie wurde personifiziert durch General Lothar von Trotha als militärischem Oberbefehlshaber seit Juli 1904. Trotha umriss in einem Schreiben vom 5. November 1904 seine Vorstellung vom „Rassenkampf“ als kulturhistorische Aufgabe: „Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen, was Bestand hat.“

Die Gefechte im August 1904 am Waterberg besiegelten die militärische Niederlage der Herero, die sich im Januar 1904 der kolonialen Landnahme durch Angriffe auf deutsche Siedler zu widersetzen suchten. Entscheidend geschlagen, suchten Zehntausende die Flucht gen Osten durch die wasserlose Omaheke, um sich in die britische Kolonie Betschuanaland (das heutige Botswana) zu retten. Die Meisten überlebten die Strapazen nicht. Trothas berühmter Befehl vom 2. Oktober 1904 präzisierte seine Vorstellung vom „Rassenkrieg“: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auf sie schießen.“

Kritiker der Genozid-These machen geltend, dieser Befehl sei kurze Zeit später dahin abgemildert worden, dass über Frauen und Kinder nur hinweg geschossen werden solle, um sie in die Omaheke zurück zu treiben. Auch das war eine Form der Vernichtung, denn die Wenigsten überlebten den Nahrungs- und Wassermangel in der Trockensteppe. Trothas Vorgesetzter, Generaloberst Graf von Schlieffen, teilte dessen Meinung in einem Brief an das Reichskolonialamt vom 23. November 1904 noch ausdrücklich zu einer Zeit, da der Vernichtungsbefehl bereits heftiger öffentlicher Kritik ausgesetzt war: „Dass er die ganze Nation vernichten und aus dem Land treiben will, darin kann man ihm beistimmen. Ein Zusammenleben der Schwarzen mit den Weißen wird nach dem, was vorgegangen ist, sehr schwierig sein, wenn nicht erstere dauernd in einem Zustand der Zwangsarbeit, also einer Art Sklaverei erhalten werden. Der entbrannte Rassenkampf ist nur durch die Vernichtung einer Partei abzuschließen.“

So endet denn auch der beim Verlag Mittler in Berlin 1906 erschienene, von der Kriegsgeschichtlichen Abteilung 1 des Großen Generalstabes herausgegebene Band 1 („Der Feldzug gegen die Herero“) über „Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika“ triumphal mit der Feststellung: „Dass den Hereros ihr Rückzug durch die Omaheke in der Tat zum Verhängnis geworden war, hatten die Erkundungen der deutschen Aufklärungsabteilungen ... festgestellt. (...) Das Strafgericht hatte sein Ende gefunden. Die Hereros hatten aufgehört, ein selbstständiger Volksstamm zu sein.“

Nach der Niederlage der Herero entschieden sich die meisten Nama-Gruppen (diskriminierend als „Hottentotten“ verunglimpft) im Süden des Landes ihrerseits zum bewaffneten Widerstand, nicht zuletzt wohl aufgrund der brutalen Vorgehensweise gegen die Herero. Anders als diese wandten sie eine effektive Guerilla-Strategie an, vermieden „Entscheidungsschlachten“ und banden mit kaum 2.000 Kämpfern eine deutsche Kolonialarmee in der Stärke von bis zu 14.000 über mehrere Jahre hinweg. Das bewahrte sie nicht vor einer ähnlichen Behandlung. Am 22. April 1905 unterstrich von Trotha in einer Proklamation, in der er die Nama unter ausdrücklichem Verweis darauf, „wie es dem Volk der Hereros ergangen ist“ zur Kapitulation aufforderte, den strategischen Charakter der Vernichtungsstrategie.

Am 4. November 1905 wurde Generalleutnant von Trotha, der für seine Schlachtermentalität mit dem Pour le mérite ausgezeichnet wurde, als Befehlshaber der „Kaiserlichen Schutztruppe“ abgelöst. An diesem Tag stellte er in einem Kommandobefehl an die Truppen fest: „Der Hereroaufstand ist als beendigt anzusehen. Wenn es noch nicht gelungen ist, die Hottentottenstämme vollständig zu vernichten, oder sie zur Abgabe der Waffen zu bringen, so ist das nicht eure Schuld.“

Die Repressionsstrategie gegenüber den gefangenen aufständischen Herero und Nama einschließlich Frauen und Kinder ordnet sich in das Bild des Genozids ein. Unmittelbar nach dem militärischen Wendepunkt entstanden Gefangenen- sowie ausdrücklich so bezeichnete Konzentrationslager. Übergriffe gegen in den Lagern gefangen gehaltene Frauen und Mädchen waren an der Tagesordnung. Die Lebensbedingungen in diesen Lagern erfüllten den Tatbestand der Ermordung durch Vernachlässigung.

Wenn für die meisten anderen Fälle des Genozids im 20. Jahrhundert die Verheimlichung des Geschehens durch die Täter charakteristisch ist, so sticht der erste Völkermord des Jahrhunderts dadurch hervor, dass die Täter sich ihrer Verbrechen ohne Furcht vor Konsequenzen rühmen konnten. Offiziell wurde der Krieg am 31. März 1907 für beendet erklärt, aber Lager und Kriegsgefangenschaft wurden für die Herero erst am 27. Januar 1908 aufgehoben , eine offizielle Entlassung der gefangenen Nama erfolgte bis 1914 überhaupt nicht.

Der erste deutsche Genozid tritt in der Diskussion jedoch nicht nur gegenüber dem zentralen Thema des Holocaust zurück, sondern auch in der Genealogie des Völkermordes etwa gegenüber dem türkischen Genozid an Armeniern. Allerdings führt ein nach dem verantwortlichen Berichterstatter benannter „Whitaker Report“ der United Nations Sub-Commission on Prevention of Discrimination and Protection of Minorities der Commission on Human Rights of the United Nations Economic and Social Council in Genf als erstes Fallbeispiel organisierten Völkermords im 20. Jahrhundert das deutsche Massaker an den Herero 1904 auf.

Dessen ungeachtet drückt sich die offizielle deutsche Politik wie auch ein Großteil des öffentlichen Diskurses und Bewusstseins weiterhin davor, sich dem Thema adäquat zu stellen. Lieber wird verdrängt, wenn nicht sogar wissentlich gelogen, um das Geschehene zu verharmlosen. Es ist eine bittere Ironie, dass diese ungebrochene Tendenz ganz wesentlich von einem Außenminister der Grünen nachhaltig bestärkt wurde. Dabei würden Entschädigungszahlungen an die Nachkommen der Opfer kaum höher sein als die spontanen Spendengelder der humanitären Katastrophenhilfe nach dem Tsunami.

Aber vielleicht ist das entscheidende Motiv ja auch gar nicht die Verhinderung der finanziellen Folgen einer offiziellen Schuldanerkennung, sondern eher die Vermeidung eines Präzedenzfalles. Denn andere imperialistische Kolonialmächte könnten dadurch für ihre Gräueltaten ebenfalls materiell zur Verantwortung gezogen werden. In Zeiten, in denen für die indirekte und direkte Beteiligung an militärischen Konflikten in anderen Teilen der Erde trotz zweifelhafter völkerrechtlicher Aspekte stets genügend Geld vorhanden ist, bleibt nur die ernüchternde Erkenntnis, dass ein dauerhafter Frieden im Sinne von Völkerverständigung für die herrschende Politik weniger wert ist als fortgesetzte Kriege.

Henning Melber ist Direktor emeritus der Dag Hammarskjöld Stiftung in Uppsala/Schweden und Extraordinary Professor am Department of Political Sciences/University of Pretoria und am Centre for Africa Studies, University of the Free State in Bloemfontein. Von 1992 bis 2000 leitete er die Namibian Economic Policy Research Unit (NEPRU) in Windhoek, von 2000 bis 2006 war er Forschungsdirektor am Nordic Africa Institute in Uppsala. Er ist promovierter Politologe und habilitierte in Entwicklungssoziologie.


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Jeder Stifter einer Weltreligion verhieß Frieden, und zwar im Diesseits, zu erreichen durch Toleranz, Barmherzigkeit, Menschlichkeit. Staatsgründer taten es ihnen gleich und schrieben in ihre Grundgesetze: All men are created equal (Unabhängigkeitserklärung der USA). Großartige, kluge Worte. Und doch ist die menschliche Geschichte geprägt von Gewalt und Krieg, deren Beute von wenigen eingesackt wurde und dessen Leid von den Vielen getragen werden musste.

Wie gelang es und gelingt es in fast allen Gesellschaftsformationen, die Menschen gegeneinander in Stellung und zu Mord und Totschlag zu bringen und dies noch als gute und ehrenvolle Taten zu verkaufen? Die Massenmörder schrieben und schreiben die Geschichte, sie ließen sich den Titel ‚Der Große’ zumessen, und der Tod auf dem Schlachtfeld wurde zum Heldentod verklärt, während die ‚Kollateralschäden’ ignoriert wurden. Interessen obsiegen über Ethik und Moral.

Das Projekt Münchhausen fordert alle auf, die Geschichten der großen und kleinen Kriegslügen zu erzählen, mit denen die Menschen zur Gewalt gegen einander verführt wurden – von den Kreuzzügen, über den angeblich Gerechten Krieg, den Tonking-Zwischenfall an den Küsten Vietnams, bis zur dreisten Lüge des US-Außenministers über die Atombomben des Saddam Hussein und dem Militär als letztem Mittel der angeblich Humanitären Intervention?

Wir müssen uns befreien von dem Spinnengewebe der Lügen und Legitimationsideologien, die unsere Mitmenschen zu Feinden und Feindbildern und uns zu Gewalt gegen sie in der globalisierten Gesellschaft machen wollen. Das Projekt Münchhausen soll dazu einen Beitrag leisten.