Erklärung des pax christi-Bundesvorstandes zum 22. Juni 2016, dem 75. Jahrestag des Angriffs Deutschlands auf die Sowjetunion

Mehr als eine Erinnerung: Herausforderung zu aktiver Friedensfähigkeit!

Am 22. Juni 1941 setzte die deutsche Wehrmacht den Zweiten Weltkrieg mit dem sogenannten Unternehmen Barbarossa fort und überfiel die Sowjetunion. Damit eskalierte der gegen Polen und an der Westfront begonnene Angriffskrieg und sollte nun zu seinem eigentlichen Ziel geführt werden: der Eroberung weiter Territorien Osteuropas als deutsches Wirtschafts- und Kolonialgebiet. Ideologisch wurde dieser Krieg mit Vorstellungen von Minderwertigkeit der slawischen Bevölkerung und einem konstruierten „jüdisch-bolschewistischen“ Feindbild unterlegt.

Dieser Krieg – auf dem Territorium der heutigen Staaten Weißrussland, Ukraine und Russland sowie der baltischen Staaten – ist dort nicht vergessen. Er hat über 26 Millionen Soldaten und Zivilisten das Leben gekostet und großflächige Verwüstungen und Zerstörungen von Städten und Dörfern hinterlassen oder sie ganz ausgelöscht. Dem Vorrücken der deutschen Wehrmacht folgten mit Polizeieinheiten und Einsatzgruppen ziviler Besatzungsverwaltung, den sogenannten Reichskommissariaten, brutale und grausame Formen der deutschen Besatzungsherrschaft. So wurden auch die Bedingungen geschaffen, unter denen der Völkermord an Juden, Sinti und Roma in Osteuropa weiter durchgeführt werden konnte.

Die Erinnerung an diese Verbrechen hat über lange Zeit auch das Deutschlandbild in der Sowjetunion und ihren Folgestaaten bestimmt. Die Erinnerung an die Brutalität der deutschen Kriegsführung im Zweiten Weltkrieg ist nicht erloschen, sondern wird an Gedenktagen wie dem 9. Mai jährlich als „Tag des Sieges“ wachgehalten. Fast in jedem Ort, der von den Kampfhandlungen betroffen war, gibt es Denkmäler und Hinweise auf die Opfer dieses Krieges. Dieser Opfer gedenken wir in diesem Jahr besonders.

Das Bild von Russland ist heute nicht unbeeinflusst von den aktuellen Konflikten in der Ukraine und um die Ukraine und dem völkerrechtswidrigen Anschluss der Krim an das russische Staatsgebiet. Die gegenwärtige Wahrnehmung Russlands im Westen wird davon negativ beeinflusst. Es besteht die Gefahr, alte Feindbilder neu zu beleben und in Denkmuster von Stellvertreterkriegen des alten Ost-West-Konfliktes zurückzufallen. Es kommt aber vielmehr darauf an, die jeweiligen Interessen und Perspektiven zu verstehen. Es geht um ein Verstehen, dass nicht gleichbedeutend mit Verständnis und Rechtfertigung ist. pax christi sieht den Versuch einer „neuen Entspannungspolitik“ geboten.

Der „eingefrorene“ Konflikt im Donbass, der inzwischen über 9.000[1] Tote vor allem unter der Zivilbevölkerung gefordert und viele Flüchtlinge und Obdachlosigkeit in großem Maße verursacht hat, muss um dieser Menschen willen beendet werden. Es kann nicht mehr um Rechtfertigungen oder Schuldzuweisungen gehen, sondern es kommt darauf an, dass alle diese Gewalttätigkeiten aufhören! Die Bedingungen des Minsk II Abkommens sollten endlich umgesetzt werden, denn es gibt letztlich keine Alternative zu einem wirklichen Waffenstillstand, kontrollierbaren Grenzen, freien Wahlen und einem Verhandlungsfrieden.

In den Beziehungen zu Russland sollte die Europäische Union ihre Sanktionspolitik beenden und die Nato ihre Strategien überdenken: So sehr die Besorgnisse Polens und der baltischen Republiken ernst zu nehmen und die Erfahrungen der sowjetischen Okkupationszeit 1939-1941 dort nicht vergessen sind, darf es nach Ansicht von pax christi nicht zu missverständlichen Entwicklungen kommen, die die Beziehungen zu Russland verschlechtern! Auch die russische Perspektive hat ihre Berechtigung und führt dafür ihre geschichtlichen Erfahrungen an. Europa – das selbst auch in einer Krise steckt, braucht aus seinem Interesse heraus Russland als Partner und nicht als Gegner – wohl wissend, dass Russland ein Partner mit eigenen Interessen ist.

pax christi fordert daher eine konstruktive Fortsetzung der Dialoge auf politischer und auch kirchlicher Ebene. Das geschichtliche Datum des 22. Juni ist mehr als nur eine Erinnerung, es ist gerade jetzt eine Herausforderung zu aktiver Friedensfähigkeit!


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