Otmar Steinbicker
Unsere Zivilisation ist kriegsuntauglich geworden
Aachener Nachrichten, 22.06.2016
Die Kritik von Außenminister Frank-Walter Steinmeier an den aktuellen Nato-Manövern erregt die Gemüter. Dass der Minister von „Kriegsgeheul und Säbelrasseln“ sprach, wird ihm in der Zeitung „Die Welt“ als „Illoyalität“ vorgehalten. Sicherlich kann man die Äußerung des Ministers als Ohrfeige für die Nato und für die Kabinettskollegin im Verteidigungsministerium deuten. Abseits tages- und koalitionspolitischer Interpretationen lohnt jedoch eine tiefergehende Analyse.
Seit der Spätphase des Kalten Krieges Ende der 80er Jahre wissen Militärs in Ost und West, dass nicht nur ein Atomkrieg, sondern auch ein großer, raumgreifender konventioneller Krieg in Europa nicht mehr überlebbar ist. Die möglichen Szenarien wären völlig anders als die bekannten des Zweiten Weltkrieges.
Ein Feuersturm wie nach dem Bombardement Dresdens im Februar 1945 hätte bereits in den 80er Jahren die Stadt in eine nicht wiederaufbaubare Sondermüllzone verwandelt – allein wegen der Plastikgegenstände in den Haushalten, die es 1945 nicht gab. Ebenso war in den 80er Jahren in Europa die Abhängigkeit von der reibungslosen Versorgung mit Elektro-Energie gegenüber der Zeit 40 Jahre zuvor erheblich gestiegen. Atomkraftwerke benötigen Elektro-Energie zur Kühlung, und Notstromaggregate arbeiten nicht unbefristet. Heute hat sich diese Problematik noch deutlich verschärft, auch wegen der Abhängigkeit vom reibungslosen Funktionieren des Internets. Unsere europäische Zivilisation ist kriegsuntauglich geworden, lautet die schlichte, realistische Erkenntnis.
Ende der 80er Jahre wurden daraus ernsthafte Konsequenzen gezogen, eine Reduzierung auch der konventionellen Rüstung beschlossen und gegenseitige Manöverbeobachtungen und weitere Kontrollmechanismen vereinbart, um jeweils selbst vor Überraschungen gefeit zu sein und Ängste auf der anderen Seite abzubauen. Militärexperten in Ost und West sondierten gar in einer Arbeitsgruppe, ob „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ hergestellt werden kann, die im Idealfall zwar die Möglichkeit einer militärischen Verteidigung garantiert, die Möglichkeit eines militärischen Angriffes aber ausschließt.
Bevor Ergebnisse vorgelegt werden konnten, fiel die Mauer, der Warschauer Pakt zerbrach, und der Kalte Krieg war beendet. Dennoch bleibt die sicherheitspolitische Grunderkenntnis in Ost und West bestehen, dass ein großer Krieg in Zentraleuropa nicht mehr führbar ist, weil es keine Sieger geben würde.
Unter diesem Blickwinkel sind die von Steinmeier kritisierten Manöver der Nato ebenso wie die der russischen Seite entweder leere Worte oder die Drohung mit dem eigenen Selbstmord. In beiden Fällen führen sie zu keinerlei politischen Lösungen, sondern stattdessen in eine außen- und sicherheitspolitische Sackgasse. Je weiter man dort hineinläuft, desto weiter ist der Weg zurück zur Vernunft.
Die Unmöglichkeit, einen großen Krieg in Europa siegreich führen oder das eigene Land in einem solchen Krieg überhaupt verteidigen zu können, beseitigt keineswegs die Konflikte, die aufgrund unterschiedlicher Interessen entstehen. Sie erzwingt allerdings andere Wege der Konfliktlösung. Wenn es keine militärische Lösung mehr geben kann, sind zwangsläufig Politik und Diplomatie gefragt.
Die Kritik unseres Außenministers ist inhaltlich nicht völlig neu, auch wenn sie bisher nicht mit einem solchen medialen Paukenschlag geäußert wurde, sondern eher in Fachdebatten um die Ausrichtung des künftigen Weißbuches zu den Aufgaben der Bundeswehr. Nach dem, was vorab über dessen Entwurf zu lesen war, ist man von nötigen Konsequenzen noch weit entfernt.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier