Otmar Steinbicker
Brauchen wir noch die Bundeswehr?
Rede auf der Kundgebung „Krieg beginnt hier“ in Tier am 11.06.2016
Wenn wir eine Straßenumfrage machen würden, wozu die Bundeswehr da sein soll, dann würde wohl die überwiegende Mehrheit der Befragten der Aussage zustimmen: Sie soll unser Land verteidigen.
Das ist nun leichter gesagt als getan. Vermutlich haben die meisten Befragten dann bei dem Begriff „Verteidigung“ die Szenarien der Zweiten Weltkrieges vor Augen. Dessen Ende liegt allerdings mehr als 70 Jahre zurück und seitdem hat sich die Welt einschließlich der Möglichkeiten zur Kriegführung drastisch verändert. Diese Erkenntnis erfordert ein Umdenken!
Die europäische Zivilisation ist kriegsuntauglich geworden!
Schon 1988 waren sich bei einer Tagung der Ev. Akademie Loccum Offiziere von Bundeswehr und damaliger DDR-NVA einig, dass nicht nur ein Atomkrieg, sondern auch ein erneuter großer konventioneller Krieg für die europäischen Staaten nicht überlebbar wäre. Die Zerstörung von Atomkraftwerken und großen Chemiebetrieben würde eine atomar und chemisch verseuchte Wüste entstehen lassen. Und angesichts der hochgradigen Abhängigkeit moderner Industriegesellschaften von einer funktionierenden Elektroenergieversorgung wäre es nicht einmal nötig, die Kraftwerke zu zerstören, um Industriestaaten komplett lahmzulegen. Es reichen die zentralen Umspannstationen der Fernübertragungsnetze für Elektroenergie.
Heute sind wir 28 Jahre weiter und die genannten Probleme haben sich durch neue Technologien weiter verschärft, vor allem durch die gestiegene Abhängigkeit von Computertechnologie und Internet.
Mit einem Wort: Die europäische Zivilisation ist kriegsuntauglich geworden!
Konflikte zwischen Staaten müssen ohne Krieg gelöst werden
Die Konsequenz: Konflikte zwischen Staaten, die es aufgrund unterschiedlicher Interessen immer geben wird, müssen ohne Krieg gelöst werden. Das ist keine Frage von „Pazifismus“ oder „Bellizismus“, das ist eine Frage von schlichtem Realismus. Wenn es keine militärische Lösung mehr geben kann, dann kann es nur noch eine politische Lösung geben.
Wenn es aber keine militärische Lösung mehr geben kann, dann taugt auch die Bundeswehr als militärisches Instrument nicht mehr für eine Lösungssuche. Dann ist zwangsläufig Politik gefragt!
Die Bundeswehr ist nicht mehr zur Landesverteidigung geeignet! Wenn ihr Einsatz in einem großen europäischen Krieg zum Zusammenbruch der gesamten Zivilisation in allen von einem solchen Krieg betroffenen Ländern führen würde, wie Militärs es formulieren, dann wäre unser Land vernichtet und nicht „verteidigt“.
Die desaströsen Erfahrungen in Afghanistan sollten eine Lehre sein.“
Seit dem Ende des Kalten Krieges haben wir die Bundeswehr vor allem in Auslandseinsätzen erlebt, darunter seit 15 Jahren in einem längst verlorenen Krieg in Afghanistan.
Als Bilanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr lässt sich festhalten: Sie tragen nicht dazu bei, Konflikte zu lösen. Sie tragen vielmehr dazu bei, vorhandene Konflikte weiter zu verschärfen und ihre Lösung zu erschweren.
Das jüngste Friedensgutachten 2016 der wichtigsten deutschen Friedensforschungsinstitute stellte erst vor wenigen Tagen fest: „Die desaströsen Erfahrungen in Afghanistan, Irak und Libyen sollten eine Lehre sein.“
Gut, im Irak und in Libyen war und ist die Bundeswehr zum Glück nicht dabei, aber aus Afghanistan und Syrien ist sie noch lange nicht hinaus.
Neue Feindbildsuche nach dem verlorenen Afghanistankrieg
In der Debatte um Afghanistan hörte ich 2007/2008 hin und wieder von politischen Insidern die Bemerkung: „Wir dürfen da nicht abziehen, ansonsten zerbricht die NATO“. Ich habe mir dann 2013, als der Abzug der NATO-Kampftruppen beschlossen wurde, die Frage gestellt: „Was passiert jetzt mit der NATO? Wird sie zerbrechen? Oder wird sie einen neuen Feind finden, der sie zusammen hält?“
Seit Februar 2014 haben wir mit dem Ukraine-Konflikt einen neuen heißen Konflikt. Die NATO hat in Russland einen neuen (alten) Feind gefunden. Dieser Aspekt sollte neben anderen Aspekten im Ukraine-Konflikt gesehen werden – nicht als Ursache des Konfliktes, der ja auch nicht erst mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland begann, wohl aber als Element in der Handhabung des Konflikts, für dessen militärische Eskalation beide Seiten Mitverantwortung tragen.
Mit der Neubesinnung auf das alte Feindbild Russland steht erneut die Problematik im Raum, dass ein großer konventioneller Krieg in Europa zur Vernichtung Europas führen würde.
Mit Minsk 2 haben die Konfliktparteien im Februar 2015 den Ukrainekonflikt soweit eingedämmt, dass er aktuell nicht mehr auf ganz Europa auszugreifen droht.
Mit der Verstärkung der NATO-Präsenz in Osteuropa wird aber zugleich das Konfliktpotenzial für einen großen Krieg gestärkt, der Europa vernichten könnte.
Die Bundeswehr im Cyberwar
Ein neuer Aspekt in der Debatte ist der ankündigte Einsatz der Bundeswehr im Cyberwar. Eine solche Kriegführung ist hochgefährlich und könnte gegebenenfalls dazu führen, über den Eingriff in Steuerungssysteme Atomkraftwerke zur Explosion zu bringen und damit quasi einen Atomkrieg ohne Atomwaffen zu führen.
Dass solche Versuche abgewehrt werden müssen, versteht sich, aber dazu brauchen wir Computerexperten und keine Bomben oder Raketen. Dazu brauchen wir auch keine Computerexperten in Uniform!
Wenn eine Zerstörung unserer Zivilisation durch einen Cyberwar verhindert werden soll, dann muss diese Art der Kriegführung verhindert werden.
Das bedeutet im Minimum, dass diese Art der Kriegführung international geächtet wird. Die Bundesregierung kann aber nicht glaubwürdig für die Ächtung des Cyberwar eintreten, wenn sie selbst Streitkräfte zur Führung eben dieses Cyberwar unterhält.
Wer oder was bedroht unser Land?
Fragen wir danach, wer oder was unser Land ernsthaft bedroht, dann dürfen wir die Folgen des Klimawandels nicht außer Acht lassen. Wir haben das in den letzten Tagen und Wochen drastisch erlebt.
Diese Folgen des Klimawandels lassen sich aber nur politisch bearbeiten. Sie lassen sich nicht militärisch bekämpfen!
Zusammenfassend stellen sich mir folgende Fragen:
Brauchen wir eine Bundeswehr?
• Brauchen wir eine Bundeswehr, die unser Land nicht verteidigen, sondern schlimmstenfalls zur Vernichtung dieses Landes in einem großen Krieg in Europa beitragen kann?
• Brauchen wir eine Bundeswehr, die nicht zu einer politischen Lösungssuche bei zwischenstaatlichen Konflikten in Europa beitragen kann, sondern durch militärisches Muskelspiel eher zu einer Eskalation von Konflikten beiträgt?
• Brauchen wir eine Bundeswehr, die bei komplizierten internationalen Konflikten wie in Afghanistan, nicht zur Lösung von Konflikten, sondern zu deren Verstärkung beiträgt?
• Brauchen wir eine Bundeswehr, die bei den problematischen Dimensionen eines Cyberwar nicht dazu beitragen kann, diese gefährliche Kriegführung international zu ächten, sondern durch ihre aktive Teilnahme an dieser Art von Kriegführung diese Kriegführung international legitimiert?
• Brauchen wir eine Bundeswehr, die zur Abwehr der ernsthaften Bedrohung durch die Folgen des Klimawandels nicht in der Lage ist, sondern stattdessen Geld kostet, dass wir zur Bewältigung der Folgen des Klimawandels dringend andernorts benötigen?
Was wir brauchen, ist eine ernsthafte politische und diplomatische Krisenstrategie, einen Ausbau des Technischen Hilfswerkes und vor allem eine humane Flüchtlingspolitik für die Opfer unserer Kriege und unserer Klimasünden.
Eine solche Politik kostet Geld und benötigt qualifiziertes Personal.
Wenn US-Außenminister John Kerry Recht hat, dass allein die Bewältigung der Folgen des Klimawandels Anstrengungen erfordert, die denen des Zweiten Weltkrieges entsprechen, dann können wir uns wohl keine Bundeswehr mehr für einen Dritten Weltkrieg leisten!
Die Mauern wurden abgerissen
Und wenn seit einiger Zeit kluge Köpfe vom grünen „Parteirebellen“ Robert Zion bis zum ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger dringend anregen, über eine neue Weltordnung nachzudenken und dabei explizit eine Weiterentwicklung der letzten großen Neuorientierung, der des „Westfälischen Friedens“ von 1648 fordern, dann will ich auch daran erinnern, dass nach 1648 in vielen deutschen Städten die Stadtmauern abgerissen wurden. Stadtmauern, von denen sich die Bürger über Jahrhunderte Schutz versprochen hatten.
Die Mauern wurden abgerissen, weil sie keinen Schutz mehr boten und angesichts der Entwicklung der Waffentechnik keine Verteidigung der Städte mehr ermöglichten. Wenn heute die Bundeswehr keine Verteidigung, sondern nur noch die Vernichtung unseres Landes ermöglicht, dann muss man die Frage nach ihrem Abriss ernsthaft stellen!
Die Friedensbewegung ist nicht dafür angetreten, die Existenzberechtigung der Bundeswehr zu begründen, sondern sie infrage zu stellen.
Für die nächsten Wochen ist die Veröffentlichung des neuen Weißbuches der Bundeswehr angekündigt, das die Aufgaben der Bundeswehr in den nächsten Jahren festlegen soll. Wir werden den Inhalt sorgfältig zu prüfen haben und wird sollten uns an der dann einsetzenden Debatte offensiv beteiligen. Meine Fragen, die ich im Hinblick auf die Aufgaben der Bundeswehr stelle, habe ich benannt.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier