Otmar Steinbicker

Von der „Charta von Paris“ zur NATO-Osterweiterung

Friedensforum 5/2015

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Wer in den letzten Monaten die Debatte um die eskalierende West-Ost-Konfrontation verfolgt hat, konnte den Eindruck gewinnen, diese Problematik sei erst im vergangenen Jahr mit dem Streit in und um die Ukraine aufgekommen und hätte je nach Lesart mit den prowestlichen Maidan-Protesten oder der russischen Krim-Annexion begonnen. Doch der Konflikt begann bei genauerem Hinsehen sehr viel früher.

1990 herrschte noch traute Einigkeit. Die Umwälzungen in den sozialistischen Staaten in den Jahren 1989/90 und die deutsche Wiedervereinigung am 3.10.1990 hatten schlagartig die strategische Situation in Europa verändert. Auf einmal standen sich nicht mehr zwei hochgerüstete, gegensätzliche politische und soziale Systeme mit ihren Militärallianzen gegenüber. Jetzt konnte man gemeinsame Probleme gemeinsam angehen.

In diesem Sinne schrieben die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in die Präambel des Dokumentes ihres Treffens in Paris vom 19.-21. November 1990, der „Charta von Paris für ein neues Europa“: „Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden. Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Ideen der Schlussakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an.“

Selbstverständlich konnten unter den neuen Bedingungen auch die Rüstungen und Militärausgaben zurückgefahren werden. Ein entsprechender Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa wurde am 19. November 1990 in Paris von den 22 Regierungschefs der Länder der NATO und des damaligen Warschauer Vertrages unterzeichnet. Er trat zunächst am 17. Juli 1992 vorläufig und am 9. November 1992 endgültig in Kraft.

Dieses Vertragswerk baute zunächst das große Ungleichgewicht konventioneller Streitkräfte zwischen der NATO und dem damaligen Warschauer Vertrag ab. Der KSE-Vertrag setzt Begrenzungen für fünf Waffenkategorien fest: Kampfpanzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artillerie mit mindestens 100-mm-Kaliber, Kampfflugzeuge und -hubschrauber. Der Geltungsbereich reichte vom Atlantik bis zum Ural. Der Vertrag enthielt zugleich Verifikationsregelungen (u.a. Inspektionen und Informationsaustausch).

Allerdings machten die in den Jahren nach 1990 eingetretenen einschneidenden Veränderungen, vor allem die Auflösung des Warschauer Vertrages, der Zerfall der Sowjetunion und die NATO-Osterweiterung Anpassungen des Vertrages erforderlich. Am 19. November 1999 wurde daraufhin ein Übereinkommen über die Anpassung des Vertrages über Konventionelle Streitkräfte in Europa von den Teilnehmerstaaten unterzeichnet.

Dieses Übereinkommen ersetzte das im KSE-Vertrag festgelegte, blockbezogene militärische Gleichgewicht durch ein europäisches System (sub-)regionaler Stabilität. Statt des Gruppenprinzips wurden nationale und territoriale Obergrenzen festgelegt, Flexibilitätsmechanismen für militärische Übungen und Krisensituationen geschaffen sowie das Informations- und Verifikationsregime weiter verbessert und verdichtet.

30 Staaten schlossen diesen Vertrag: Armenien, Aserbaidschan, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Georgien, Griechenland, Island, Italien, Kanada, Kasachstan, Luxemburg, Moldawien, die Niederlande, Norwegen, Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Slowakei, Spanien, die Tschechische Republik, Türkei, die Ukraine, Ungarn, die Vereinigten Staaten von Amerika, das Vereinigte Königreich und Weißrussland.

Der langsame Zusammenbruch des KSE-Vertrags

Allerdings wurde dieser adaptierte KSE-Vertrag (AKSE) nie von den NATO-Staaten ratifiziert. 2004 ratifizierten lediglich die Sowjetunion-Nachfolger Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine den angepassten KSE-Vertrag. Die NATO-Staaten verlangten dagegen als Voraussetzung für ihre Ratifizierung eine zeitliche Regelung des Abzugs der russischen Truppen aus Georgien sowie den Abzug der russischen Truppen mitsamt Material und Munition aus Moldawien-Transnistrien. Diese politischen Forderungen ergaben sich allerdings nicht zwingend aus dem KSE-Vertrag.

Am 26. April 2007 kündigte Russlands Präsident Wladimir Putin die Möglichkeit der Aussetzung des Vertragswerkes durch das russische Parlament an, da Russland seiner Auffassung nach den KSE-Vertrag bislang nur einseitig erfülle und einige neu hinzugekommene NATO-Staaten, namentlich Slowenien und die baltischen Staaten, dem Vertrag nicht beitraten. Am 22. Juni 2007 erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow, Russland werde seine Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag nur erfüllen, nachdem die NATO-Länder ihn ratifiziert hätten.

Damit war dieser wichtige Abrüstungsvertrag auf Eis gelegt. Russland fühlte sich für die Dauer der Aussetzung des Vertrags nicht mehr an die für die geltenden Begrenzungen der Anzahl konventioneller Waffen gebunden. Beschwichtigend hieß es aus Moskau allerdings, man beabsichtige aber nicht, die Waffen „massiv zu vermehren oder an den Grenzen zu unseren Nachbarn zu konzentrieren“.

Nach russischer Auffassung entsprach „der Vertrag, der zu Zeiten des „Kalten Krieges“ unterzeichnet wurde, „… schon lange nicht mehr der aktuellen europäischen Realität und unseren Sicherheitsinteressen“. Man sei aber gewillt, „… einen ergebnisorientierten Dialog zum KSE-Vertrag auch während der Aussetzung seiner Anwendung fortzuführen“. Zu einem solchen Dialog kam es jedoch nicht. Am 11. März 2015 wurde der Vertrag seitens der Russischen Föderation mit Hinweis auf die Verlegung von 3.000 US-Soldaten und mehreren Hundert Kampffahrzeuge ins Baltikum offiziell aufgekündigt. Im Jahr 2007 war der Hintergrund für das russische Einfrieren des Vertrages die geplante Einrichtung eines Raketenabwehrschilds der USA in Tschechien und Polen. Diese Pläne sah Moskau als erneuten Versuch Washingtons, Russland der Fähigkeit zur nuklearer Abschreckung zu berauben, um damit selbst in die Lage zu kommen, einen Atomkrieg siegreich beenden zu können. Die USA hatten mit der geplanten Raketenabwehr und den Radaranlagen, die weite russische Gebiete abdecken sollten, ihr Versprechen gebrochen, dass es in den neuen NATO-Mitgliedstaaten keine dauerhafte Stationierung strategisch relevanter Waffenpotenziale geben werde.

Einen Grundpfeiler der Abrüstungsverträge, den ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972, hatten die USA bereits zum 13. Juni 2002 gekündigt. In diesem Vertrag zwischen den USA und der UdSSR zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (Anti-Ballistic Missiles, ABM) hatten beide Seiten die Begrenzung auf bis zu 100 Raketenabwehrsystemen an einem Standort vereinbart.

NATO-Osterweiterung

Die NATO nutzte nach 1990 die Gunst der Stunde für ihre massive räumliche Erweiterung. Nach der Auflösung von Sowjetunion und Warschauer Vertrag warb sie in den Staaten Mittel- und Osteuropas um neue Mitglieder und nutzte dabei historische Vorbehalte und Negativerfahrungen dieser Staaten gegenüber Russland, bzw. der UdSSR. Zugleich suchte sie Russland in Dialogstrukturen einzubinden. So wurde 1991 der Nordatlantische Kooperationsrat gebildet und 1994 das Programm „Partnerschaft für den Frieden“ geschaffen.

Russland setzte sich dagegen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre vergeblich dafür ein, die NATO-Osterweiterung zu verhindern oder sie zumindest zu verzögern.

Um Russland für die Aufnahmeverhandlungen der NATO mit Polen, Tschechien und Ungarn milde zu stimmen, unterzeichneten NATO-Generalsekretär Javier Solana und Russlands Präsident Boris Jelzin im Mai 1997 in Paris die 'Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation', die die Beendigung der Gegnerschaft von NATO und Russland festschrieb. Als zusätzliches Koordinationsforum wurde der NATO-Russland-Rat (NRR) eingerichtet.

1997 wurden dann von der NATO zeitgleich Beitrittsverhandlungen mit Polen, Tschechien und Ungarn aufgenommen, die 1999 der NATO beitraten. 2004 folgten Estland, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Albanien und Kroatien unterzeichneten am 9. Juli 2008 die Beitrittsprotokolle. Offen gehalten wird nach wie vor, ob auch Georgien und die Ukraine NATO-Mitglieder werden dürfen.

Den letzten konstruktiven Vorschlag, für eine Lösung der entstandenen Probleme einen neuen euro-atlantischen Sicherheitsvertrag auszuarbeiten, unterbreitete im Juni 2008 Russlands damaliger Präsident Dmitrij Medwedew. Moskau wollte dabei die „Unteilbarkeit“ der europäischen Sicherheit „rechtlich verbindlich“ verankern, die Rüstungskontrolle entsprechend des angepassten KSE-Vertrages durchsetzen und darüber hinaus eine Konfliktregelung im OSZE-Raum ermöglichen.

Für den damaligen Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier war der russische Vorschlag keineswegs inakzeptabel. In seiner Rede beim OSZE-Ministerrat in Helsinki am 4. Dezember 2008 schlug er einen direkten Bogen zur 'Charta von Paris': „Am Ende könnte die Verständigung auf eine neue Sicherheitspartnerschaft stehen. Ein verbindlicher Text, der den Rahmen liefert für gemeinsame Sicherheit und gemeinsames Handeln. Eine neue ‚Charta‘, die jene von Paris fortführt und für das 21. Jahrhundert erneuert.“ Als „unverzichtbar“ bezeichnete Steinmeier „eine tragfähige Sicherheitsarchitektur“ und „Fortschritte bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung“ im konventionellen wie im nuklearen Bereich.

Bei diesen Worten blieb es.

Otmar Steinbicker ist Redakteur des Friedensforums und Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


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