Otmar Steinbicker
Zwei-Staaten-Lösung ist nicht mehr realistisch
Aachener Nachrichten, 28.07.2020
Die israelische Regierung unter Benjamin Netanyahu hatte für Juli angekündigt, Teile der palästinensischen Westbank zu annektieren, diese Ankündigung jedoch nicht in die Praxis umgesetzt. Als offizielle Begründung wurde die Corona-Krise angegeben, die aktuell das Land beutelt und noch vor wenigen Tagen Tausende Israelis in Jerusalem zu Protesten gegen die Regierung auf die Straße trieb. Doch ob Corona der entscheidende Grund für die einstweilige Aussetzung der Annexion ist, bleibt mehr als zweifelhaft.
Es waren die EU, die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats Russland und China und viele andere Staaten, die Israel dringlich vor einer solchen völkerrechtswidrigen Handlung und den daraus erwachsenden Folgen warnten.
Auch spürbare Konsequenzen wurden als Drohkulisse in Erwägung gezogen. Nur die derzeitige US-Regierung unter Donald Trump unterstützte das Annexionsvorhaben vorbehaltlos, sie hatte sogar mit dem Trump-„Friedensplan“ vor Monaten dazu eine Steilvorlage gegeben.
Ob Trump allerdings im nächsten Jahr noch im Amt ist, muss erst die nächste Präsidentschaftswahl am 3. November zeigen. Auszuschließen ist das nicht, aber doch nicht so sicher, dass auf eine solche Perspektive hin schwerwiegende staatspolitische Entscheidungen zu treffen sind.
Sollte man sich in Israels Regierung gefragt haben, was eigentlich der Unterschied zwischen der angekündigten Annexion und der derzeitigen Realität ist, so wird man unschwer zu dem Schluss gekommen sein, dass die Annexion lediglich eine formale staatsrechtliche Festschreibung des ohnehin bestehenden Zustandes ist, nicht mehr und nicht weniger. Israelisches Militär kontrolliert ohnehin die betreffenden Gebiete, die Palästinensische Autonomiebehörde hat dort keine Entscheidungsgewalt. Auch der weitere Ausbau der israelischen Siedlungen auf dem seit 1967 besetzten palästinensischen Territorium der Westbank gehen ungebremst weiter. Rund 640.000 israelische Siedler leben mittlerweile in Ost-Jerusalem oder der Westbank, also in Gebieten, die 1967 besetzt wurden.
Lange Zeit erschien auch vielen Israelis, die ernsthaft nach einer dauerhaften Friedensregelung suchten, eine Zwei-Staaten-Lösung, also die Schaffung eines eigenständigen Palästinenserstaates, die sinnvollste Lösung. Sogar die Möglichkeit eines Gebietsaustausches, um die großen Siedlungsblocks in der Umgebung Jerusalems Israel zuzuschlagen, wurde ernsthaft diskutiert, vonseiten der israelischen Regierung aber nie in Erwägung gezogen.
Mittlerweile sehen allerdings die meisten der früheren Befürworter der Zwei-Staaten-Lösung, dass diese Variante nicht mehr realistisch ist, da durch den fortgeschrittenen Siedlungsbau die Schaffung eines in sich geschlossenen und damit lebensfähigen Palästinenserstaates nicht mehr möglich ist.
Wenn aber letztlich nur noch eine Ein-Staaten-Lösung, also ein Staat vom Mittelmeer bis zum Jordan unter Einschluss Jerusalems und des Gazastreifens infrage kommt, dann hat dieser Staat ein zentrales Problem: werden alle Bürger auf dem Staatsgebiet die gleichen Rechte haben oder nicht?
Eine mögliche Variante: Bei gleichen Rechten für alle Bürger können irgendwann die Palästinenser die Mehrheit der Bevölkerung stellen und vielleicht eine Umbenennung des Staates Israel in Palästina beschließen.
Das wäre dann das Ende des Staates Israel.
Eine andere mögliche Variante: Die Palästinenser in der Westbank bekommen nicht die gleichen Rechte und vor allem kein Wahlrecht. Das ginge dann in die Richtung des früheren Südafrikas. Der Begriff „Apartheid“ der südafrikanischen Rassentrennung ist in israelischen Zeitungen wie „Jerusalem Post“ oder „Haaretz“ für diese Variante üblich.
Sollte eine Ein-Staaten-Lösung unausweichlich sein, stellen sich aber über die Frage der gleichen Rechte hinaus noch weitere. So beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und Jahr in Israel 41.000 Dollar, in den von der Palästinensischen Autonomiebehörde verwalteten Gebieten lediglich 3000 Dollar. Da sind weitere heftige Probleme programmiert.
Otmar Steinbicker ist Redakteur der Zeitschrift "FriedensForum" und Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier