Otmar Steinbicker
Es droht eine neue Debatte über die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Europa
Aachener Nachrichten, 13.04.2017
Vor 30 Jahren schien ernsthaft und realistisch ein Ende der Atomwaffen in Sicht. Nach einer großen, internationalen Atomwaffen-Debatte, in der sich Millionen Menschen für die Erhaltung des Friedens und der Welt engagierten, trafen sich US-Präsident Ronald Reagan und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow und unterzeichneten im Dezember 1987 in Washington den INF-Vertrag, mit dem erstmals eine ganze, hochgefährliche Waffenkategorie, die landgestützten atomaren Mittelstreckenwaffen zwischen 500 und 5000 Kilometern Reichweite, verboten und schließlich verschrottet wurden.
2007 unterbreiteten die ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger und George Shultz sowie Ex-Verteidigungsminister William Perry und Ex-Senator Sam Nunn konkrete Vorschläge für die vollständige Abschaffung aller Atomwaffen. Diesem Appell schlossen sich im Januar 2009 in Deutschland Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher an, bevor am 5. April 2009 US-Präsident Barack Obama in Prag seine Vision einer atomwaffenfreien Welt verkündete und der Bundestag im März 2010 den Abzug der letzten US-Atomwaffen aus Deutschland forderte.
Im Oktober 2016 stimmten schließlich 123 der Staaten der 193 Mitgliedstaaten in der UNO für Verhandlungen über ein Atomwaffenverbot, die vergangenen Monat – leider ohne deutsche Beteiligung – begannen.
Zugleich aber liefen in Russland und den USA Modernisierungsprogramme für Atomwaffen an, die eine Atomkriegführung mit geringerer Waffenanzahl möglich machen sollen. Bereits 2012 sah der Friedensforscher Giorgio Francescini von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung die Problematik, dass die künftigen zielgenaueren US-Atomraketen mit einer höheren Reichweite und einer höheren Zuverlässigkeitsrate in Kombination mit einem wirksamen Raketenabwehrsystem für einen Erstschlag geeignet seien. Sie hätten „eine weit über neunzigprozentige Chance, die russischen und chinesischen Nuklearstreitkräfte in einem Erstschlag zu vernichten, ohne dabei selbst nennenswerten Schaden zu nehmen.“
Mit einer Neuauflage von atomaren Erstschlagstrategien dürfte auch die Neuauflage der Stationierung von Mittelstreckenraketen mit entsprechend geringer Vorwarnzeit verbunden sein. Es sei „womöglich nur eine Frage der Zeit, bis erste Stimmen nahelegen, den INF (Intermediate Range Nuclear Forces)-Vertrag aufzukündigen und landgestützte nukleare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren“, warnte im September 2016 die Studie „Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung“ der Stiftung Wissenschaft und Politik. Knapp einen Monat später erschien in der „New York Times“ ein langer Bericht mit Vorwürfen US-amerikanischer Militärs, wonach Russland den INF-Vertrag verletze. Der Tenor dieses Artikels bestand jedoch nicht darin, Russland zur Einhaltung des Vertrages zu ermahnen.
Aus Eigeninteresse
Eine Umsetzung möglicher strategischer Überlegungen in reale Rüstungsprojekte und deren Stationierung dürfte noch einige Zeit benötigen, so dass einer solchen Entwicklung politisch entgegengewirkt werden kann. Eine Neuauflage der Atomkriegsdebatte der frühen 1980er Jahre steht damit auf der Tagesordnung.
Die Beziehungen zwischen den USA und Russland haben sich seit geraumer Zeit massiv verschlechtert. Dabei ging gegenseitiges Vertrauen verloren, das seit der Kubakrise 1962, als die Welt nur knapp einem Atomkrieg entkam, über Jahrzehnte mühsam aufgebaut wurde. Wichtige Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsverträge wurden gekündigt.
Hier muss die Bundesregierung auch im Eigeninteresse auf die USA und Russland einwirken, damit die Regierungen beider Staaten wieder auf Transparenz, Rüstungskontrolle und Berechenbarkeit setzen. Mit realen oder als Bedrohungsszenarien wahrgenommenen Atomkriegsplänen und -szenarien und dazu geeigneten Waffen lässt sich keine Sicherheit schaffen, sondern allenfalls Rechtfertigungen für neue gefährliche Aufrüstungsprogramme.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier