Otmar Steinbicker

Leipzig 1989: „Wir sind das Volk – Montag sind wir wieder da“

Meine Original-Reportage vom 6. November 1989 über die Leipziger Montagsdemo

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

„Der Friede des Herrn sei mit Euch“ – der Abschiedsgruß auf dem überfüllten Friedensgottesdienst in der Nikolai-Kirche verhallt aus dem Lautsprecher. Die wöchentliche Demonstration ist eröffnet. Schweigend, unauffällig waren die Menschen vor der Kirche zusammengeströmt. Jetzt gibt es die ersten Transparente zu sehen: „Demokratie statt SED-Monarchie“, „Freie Wahlen“, oder ganz einfach die beiden sich reichenden Hände, das Symbol der SED und darüber das kurze, bittere Wort: „Tschüss“.

Sprechchöre kommen auf: „Neues Forum zulassen“, „Wir sind das Volk“ und immer wieder: „SED – das tut weh“. Ein Transparent „Ein vereintes Deutschland“ steht einsam in der Menge, die skandiert: „SED gib auf – Wir bauen wieder auf“. Die Menschen ziehen weiter zum Karl-Marx-Platz. Ich nehme eine Abkürzung, doch der Platz ist schon überfüllt. Mit etwas Ellenbogen und viel Glück erreiche ich neben dem Opernhaus eine Treppe, von der ich etwas Überblick habe. Ich sehe eine riesige Menschenmenge mit ihren Schirmen im kalten Nieselregen stehen, zur Mitte des Platzes hin stehen Transparente, die ich von meinem Standort nicht lesen kann.

Montagsdemo Leipzig, 30.10.1989, Foto: Otmar Steinbicker

Dr. Roland Woetzel, der neue SED-Bezirkssekretär, hatte noch in der Nachmittagssendung der „Aktuellen Kamera“ erklärt, er wolle den Bürgern deutlich machen, daß „die Erneuerung unumkehrbar ist“. „Wir müssen uns die Leviten lesen lassen“, sagte er und daß die SED ihren Führungsanspruch nur im Wettstreit durchsetzen könne. Hier auf dem Platz kommt Roland Woetzel nicht an, wird ausgepfiffen. „Zu spät, zu spät“, hallen Sprechchöre ihm nach. Eine junge Frau neben mir meint, das habe der nicht verdient, der sei doch ganz neu, nicht unglaubwürdig durch seine Vergangenheit. „Ganz neu“ zu sein, das ist offensichtlich etwas, was hier auf Zustimmung stößt.. Davon zehren das Neue Forum und andere Gruppierungen, andere haben es da schwerer. Annelies Kimmel, der neuen FDGB-Vorsitzenden, fehlt das „Neue“. „Die war doch schon früher im Vorstand>“, wirft ein alter Arbeiter ein, kaum daß ich den Namen erwähne. „Der ganze Vorstand soll zurücktreten, die haben doch alles abgenickt.“

„Abgenickt“ – diese abfällige Bezeichnung für die kritiklose Zustimmung bisheriger Praxis trifft viele, die jetzt für Reformen eintreten, nicht nur die SED, auch die Blockparteien.

Auch Manfred Gerlach, den LDPD-Vorsitzenden und stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden, der als erster den Rücktritt der Regierung verlangte, trifft das Verdikt. „Der hat doch früher nie etwas Kritisches gesagt“, meint einer und formuliert den bösen Vorwurf vom „Wendehals“. Urtiele sind in Leipzig an diesem Abend schnell gefällt, selten abgewogen.

Ob es noch SED-Politiker gebe, denen man trauen könne, will ich wissen. „Vielleicht dem Modrow“, meint eine Mittvierzigerin. Vom SED-Bezirkschef aus Dresden erzählt man sich hier allerlei Anekdoten, wie der schon in früheren Jahren gegen die Privilegienwirtschaft aufgetreten sei, mit der Straßenbahn gefahren, statt in der Staatskarosse, beim Arzt im Wartezimmer gesessen, statt im Regierungskrankenhaus, den Leuten zugehört, wenn sie von ihren Sorgen sprachen. Egon Krenz, der neue SED-Generalsekretär, hat diesen Kredit nicht. Er muß Vertrauen gegen das Vorurteil schaffen, ein alter Hardliner zu sein. An ihn gehen immer wieder Sprechchöre: „Wer hat diesen Mann gewählt? Wer hat Egon Krenz gewählt?“ Wie es weitergehen sol in der DDR will ich von den Demonstranten wissen. „Vor vier Wochen wurde nur geredet, jetzt werden die Leute ungeduldig“, sagt ein Mann.

300.000 – das sah 1983 in Bonn anders aus. Polizei ist hier in Leipzig nirgendwo zu sehen und doch könnte eine Demo kaum geordneter verlaufen.

Ich komme mit einer Frau Ende Dreißig ins Gespräch. Sie ist mit ihrem sechzehnjährigen Sohn gekommen. „Heute sind noch mehr da als letzten Montag, meint der Sohn. Sie war am letzten Montag nicht dabei. „Wissen Sie, wir wechseln uns ab, mein Mann und ich. Einer muß zu Hause auf die Kleine aufpassen.“ So sei aber immer einer dabei gewesen, bis auf ein einziges Mal am 9. Oktober. Da hatte die städtische Angestellte schon tagsüber Mannschaftswagen in den Seitenstraßen gesehen. „Ich flehe Dich an, gehe heute nicht, hatte sie damals zu ihrem Mann gesagt. Doch wider Erwarten blieb alles ruhig. „Inzwischen kommt aus jeder Familie jemand zur Montagsdemo“, vermutet die Frau.

Ihre Motive? „Das sind viele“, sagt sie. Heute ärgert sie sich über den Entwurf für das neue Reisegesetz. „30 Tage vorher einen Antrag stellen, da können die doch wieder alles ablehnen“, fürchtet sie. Und was noch schlimmer wiegt: „Es gibt keine Devisen. Wie soll ich dann ohne Verwandte in den Westen fahren? Ich will doch nicht betteln um ein ‚Begrüßungsgeld‘“.

Wie sie sich eine Lösung der problematischen Situation in der DDR vorstellt? „Freie Wahlen soll es geben“, meint sie. „Alle Vereinigungen sollen zugelassen werden“. Und es müsse an die Privilegien gehen, darüber wurde überhaupt noch nicht geredet. Bei den kindern in der Schule gäbe es schon Fortschritte. Der Wehrkundeunterricht sei ausgesetzt und der Staatsbürgerunterricht solle nicht mehr benotet werden. Das Diskussionsklima sei schon offener geworden. „Das war ja auch schlimm“, sagt sie, „wir haben die Kinder dazu erzogen, die Wahrheit zu sagen und in der Schule mußten sie den Lehrern nach dem Munde reden.“

„Die Leute hier bei der Demonstration werden immer aggressiver“, ist ihr Eindruck. Jetzt, so glaubt sie sei die einzige Möglichkeit eine Verfassungsänderung, Neuwahlen, freie Wahlen. Ob sie an „Wiedervereinigung“ denkt, worüber bei uns so viele spekulieren? „Nein, Ihre kapitalistischen Verhältnisse wollen wir nicht, und den Sozialismus, wie wir ihn bisher hatten, auch nicht. Wir müssen etwas Neues finden. Ob es das gibt?“ In den Westen zu gehen, wie es jetzt so viele tun, ist für sie schließlich auch keine Lösung. „Bei Ihnen werden die ja auch nicht gern gesehen“, vernutet sie. „Und hier fehlen sie“. 900 fehlen allein in den Verkehrsbetrieben, glaubt sie zu wissen, der Verkehr werde durch Armeeangehörige aufrecht erhalten.

„Montag sind wir wieder da“

Das Ende des Demonstrationszuges zieht an uns vorüber. „Jetzt geht alles zur Stasi“, sagt ihr Sohn, „kommen Sie mit.“ Vor dem Gebäude der Staatssicherheit drängen sich die Menschen. Sprechchöre sind zu hören: „Stasi in die Volkswirtschaft“. Vor dem Eingang steht eine Mahnwache mit Transparenten, davor eine Ordnergruppe der Demonstranten. Polizei ist auch hier nicht zu sehen. Die Menschen sind hier deutlich aggressiver als zuvor auf den Straßen. „Schämt Euch, schämt Euch“, rufen sie. „Faulenzer, Parasiten“. Einer ruft „aufhängen“, aber die Umstehenden beruhigen ihn schnell.Ein Arbeiter glubt, beim nächsten oder übernächsten Mal werde die Menge nicht mehr vor der Tür halt machen. Was dann passiert? Ich bekomme keine Antwort. Stattdessen schimpft er über den jüngsten Vorschlag der neuen FDGB-Vorsitzenden, die 40-Stunden-Woche einzuführen. „Die wollen doch nur die Leute beruhigen, meint er. Die Produktion sei „im Eimer“. Da müsse jeder erst einmal 43 3/4 Stunden arbeiten, um die wieder hochzukriegen. Das wisse er doch als Arbeiter. „Wir brauchen eine Wirtschaftsreform“, wirft ein anderer ein. „Damit wir von unseren acht Stunden nicht nur vier effektiv arbeiten.“

Der Demonstrationszug nähert sich auch am Stasi-Gebäude dem Ende. „Montag sind wir wieder da, Montag sind wir wieder da“, singen die Demonstranten. Mit dem Ende des Zuges löst sich auch die Ordnerkette auf. Einzelne Demonstranten zünden in den Fensternischen des Gebäudes Kerzen an. Als ich gehe, sehe ich den ersten Polizisten. Ein Verkehrspolizist, er hält den letzten Demonstranten den Rücken frei.


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