Otmar Steinbicker

Warum Menschen fliehen

Aachener Nachrichten, 10.09.2015

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Die Bilder aus den vergangenen Tagen erinnern an 1989: erschöpfte, aber glückliche Flüchtlinge, Helfer die sie mit dem Nötigsten versorgen, tausende Deutsche, die sie willkommen heißen. 1989 veränderten sich Deutschland und die Welt. Auch die heutigen Bilder gehen um die Welt und zieren die Titel großer Medien. Das Bild vom „hässlichen Deutschen“ weicht dem eines solidarischen Menschen. Das ist gut für Flüchtlinge, für Deutschland und für die Welt.

Die Menschen, die jetzt zu uns kommen, stammen vor allem aus Syrien und anderen Kriegsregionen. In Afghanistan und im Kosovo war Deutschland am Krieg beteiligt, in andere Länder lieferten deutsche Firmen Waffen. Deutschland verursachte Fluchtgründe. Jetzt muss es helfen, die Folgen zu bewältigen.

Die Zahl der Kriegsflüchtlinge wird weiter steigen. Im Irak, in Syrien, in Afghanistan und Libyen führte der Krieg in ein Chaos, in dem realistische Friedenslösungen kaum noch vorstellbar sind. Es waren unsere Politiker, die uns seit Jahren eingeredet hatten, die jeweiligen Konflikte seien politisch nicht lösbar, Militär müsse „als letztes Mittel“ eingesetzt werden. Jetzt sehen wir die Folgen deutlich vor Augen.

Geplünderte Länder, billige Arbeiter

Aber es werden in Zukunft nicht nur die Opfer unserer Kriege sein, die bei uns Zuflucht suchen. Es werden auch die Opfer unserer Wirtschaftspolitik bei uns anklopfen: Menschen aus Ländern, deren Ressourcen geplündert wurden, die zu Hungerlöhnen und unter unsäglichen Arbeitsbedingungen Billigtextilien für uns produzieren mussten. Die Zahl dieser Betroffenen ist weitaus höher als die der Kriegsflüchtlinge! Die Problematik der ungerechten internationalen Wirtschaftsbeziehungen ist seit Jahrzehnten bekannt. Statt Schritte zur Lösung zu beschreiten, wurde nach 1990 der Turbokapitalismus der Globalisierung angeheizt.

In absehbarer Zeit wird es eine weitere riesige Fluchtwelle geben infolge des Klimawandels, der durch eine Industrieproduktion ohne Rücksicht auf die Belastbarkeit der Natur hervorgerufen wurde. Zu den Ursachen dieses Klimawandels gehört auch der Braunkohle-Einsatz in unserer Region.

Ende August benannten US-Präsident Barack Obama und sein Außenminister John Kerry in Alaska den Klimawandel als „epochale Gefahr“. Kerry warnte, das gegenwärtige Flüchtlingsszenario in Europa werde einst als harmlos gelten, sollten „Klima-Flüchtlinge“ auf die Reise gehen, weil Wasser und Nahrung fehlten und „Stämme“ gegeneinander ums bloße Überleben kämpfen. Die jetzt nötigen Kraftanstrengungen verglich Kerry gar mit den Anstrengungen der Alliierten während des Zweiten Weltkriegs.

Technische Hilfe statt Militär

Angesichts dieser Problematik geht es um mehr als ein paar Milliarden Euro. Da steht eine komplette Umsteuerung der politischen Ziele auf der Tagesordnung. Wir benötigen eine grundsätzlich andere Klima- und Wirtschaftspolitik. Eine wirksame Sicherheitspolitik wird angesichts zunehmender Risiken von Naturkatastrophen statt Militär ein personell und materiell hochausgerüstetes Technisches Hilfswerk erfordern, das im eigenen Land wie auch international einsetzbar ist.

Konflikte können nicht länger militärisch, sondern müssen zivil gelöst werden, Wirtschafts- und Umweltpolitik können nicht länger unter der Priorität privaten Gewinnstrebens – gemischt mit nationalstaatlicher Perspektive – betrieben werden. Das hat nichts mit „Gutmenschentum“ zu tun. Es führt nur zu spürbar negativen Konsequenzen, wenn wir das Gegenteil tun.

Die Menschen, die an den Bahnhöfen die Flüchtlinge als Inländer der gemeinsamen Welt begrüßten, haben für viele in Deutschland die Tür zu diesem neuen Denken aufgestoßen.

Otmar Steinbicker ist Redakteur des Friedensforums und Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


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Beiträge von Otmar Steinbicker
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Rede zum Ostermarsch in Kaiserslautern am 15.04.2017

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Ist die NATO im großen Luftkrieg noch angriffsfähig?

Ministerin von der Leyen gibt auf die Sinnkrise der Bundeswehr keine überzeugende Antwort

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Nach dem Anschlag auf den Talibanführer droht der Konflikt außer Kontrolle zu geraten

Cyberwar klingt nach sauberem Krieg, ist aber hochgefährlich

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Der Gedanke, dass Trump Herr über die Atomwaffen der USA werden könnte, ist unerträglich

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2015

Die Abgeordneten, die heute dem neuen Krieg zustimmen, handeln unverantwortlich

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Nach Jahren des Zögerns muss von der Bundesregierung eine ernsthafte Friedensinitiative ausgehen

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Warum Menschen fliehen

OSZE: Möglichkeiten und Grenzen des Konfliktmanagements

Von der „Charta von Paris“ zur NATO-Osterweiterung

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Zäh, schwierig, aber letztlich erfolgreich: Zusammenarbeit im UNO-Sicherheitsrat zahlt sich aus

Kubakrise – Nahe am Abgrund

Israel muss sich entscheiden

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Die Mahnwachen – eine rechtsoffene Bewegung

Die Gefahr eines Atomkrieges ist in jüngerer Vergangenheit wieder deutlich gestiegen

Die Friedensbewegung hat keinen Grund zu verzagen, sie hat im Gegenteil gerade jetzt riesige Chancen!

Ergebnis von Minsk kann nur die grobe Richtung für eine Lösung des Ukraine-Konflikts vorgeben

„Friedenswinter“

2014

Die Lüge von der „Nachrüstung“

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Geht es beim Marineeinsatz im Mittelmeer um den Schutz des Abtransportes syrischer Chemiewaffen?

System kollektiver Sicherheit löst Konflikte und verhindert Krieg

2013

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Vor 25 Jahren: Yüksel Seleks schwierige Heimkehr in die Türkei

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Kampfdrohnen setzen die Hemmschwelle zur militärischen Gewaltanwendung deutlich herab

2012

Ist ein Ende der Gewalt in Syrien mit nichtmilitärischen Mitteln denkbar?

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2010

Warum die NATO im 21. Jahrhundert keinen Sinn mehr macht (Aachener Nachrichten, 26.11.2010)

2009

Die erste Bresche im Eisernen Vorhang, Reportage vom 19.08.1989 in Ungarn

Krieg ist „ultima irratio“: Sicherheit gemeinsam gestalten