Otmar Steinbicker
Der Atomkrieg gilt wieder als führbar
Aachener Nachrichten, 19.10.2020
Seit mehr als 50 Jahren galt ein befohlener Atomkrieg als praktisch ausgeschlossen. Es blieb allerdings das Restrisiko durch einen Fehlalarm. Inzwischen gilt ein Atomkrieg wieder offiziell als führbar und damit gewinnbar. Die Bundeswehr übt bereits den Einsatz für einen Abwurf von US-Atomwaffen, die im Eifelörtchen Büchel lagern.
Was hat sich verändert? Nach der Kubakrise von 1962, in der die Welt nur knapp einem Atomkrieg entging, besannen sich die USA und die UdSSR darauf, einen solchen Krieg zu verhindern. Die wichtigste Maßnahme war dabei der ABM-Vertrag (Anti Ballistic Missile Treaty) von 1972, der die Aufstellung von Raketenabwehrsystemen auf ein Minimum von letztlich 100 für jede Seite reduzierte und damit die gegenseitige Verwundbarkeit ausdrücklich garantierte. Aus dieser Zeit stammt die treffende Floskel „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter“. Auf der Basis dieser Verwundbarkeit konnte man sich auf eine Begrenzung der Zahl der Raketen und Sprengköpfe einigen und später auch diese Waffen deutlich reduzieren. Allen Beteiligten war klar: Ein Atomkrieg ist nicht zu überleben und scheidet damit als Option zur Kriegsführung aus. Atomwaffen galten somit als reine Abschreckung.
Als 1980 namhafte Militärstrategen in den USA öffentlich über einen Sieg in einem Atomkrieg spekulierten, forderten sie den Aufbau eines großen Raketenabwehrsystems, um die Folgen eines Gegenschlages auf den Tod von nur 20 Millionen US-Bürger begrenzen zu können. In einer 1984 veröffentlichten Studie warnten daraufhin US-Wissenschaftler davor, dass bereits ein Einsatz von Atomwaffen mit einer Gesamtsprengkraft von 5000 Megatonnen unweigerlich die Erde verdunkeln und ein Atomkrieg damit die Existenz der Menschheit bedrohen würde.
Ein entscheidender Schritt in Richtung eines Atomkrieges war schließlich die Aufkündigung des ABM-Vertrages durch die USA 2002 und der darauf folgende Aufbau eines gigantischen Raketenabwehrsystems. Zusätzlich wurde ein Modernisierungsprogramm für die Atomraketen gestartet, das eine höhere Reichweite und eine Treffergenauigkeit von mittlerweile 10 Metern ermöglichte. Nach Berechnungen amerikanischer Analysten haben die USA im 21. Jahrhundert über den Weg höherer Treffgenauigkeit und Zuverlässigkeit ihrer nuklearen Trägersysteme die strategische Stabilität gegenüber Moskau und Peking zu ihren Gunsten verändert mit dem Ziel, eine weit über neunzigprozentige Chance zu erreichen, die russischen und chinesischen Atomstreitkräfte in einem Erstschlag zu vernichten, ohne dabei selbst nennenswerten Schaden zu nehmen.
Die russischen Maßnahmen zur Modernisierung ihrer Atomwaffen setzen asynchron auf eine drastische Erhöhung der Schnelligkeit. Hyperschallwaffen sollen nicht mehr mit bisherigen Raketenabwehrsystemen ausgeschaltet werden können. Damit soll die Zweitschlagfähigkeit und damit die Abschreckung gegenüber den USA erhalten bleiben.
Nach dem Auslaufen des letzten atomaren Rüstungsbegrenzungsabkommens zwischen den USA und Russland im Februar 2021 dürfte der letzte Damm brechen und ein neuer massiver Rüstungswettlauf wäre unausweichlich. Dass die Bereitschaft und Fähigkeit, einen Atomkrieg zu führen, zugleich auch massiv die Gefahr eines Atomkrieges aufgrund eines Fehlalarms steigert, liegt auf der Hand.
Die aktuellen Übungen der Bundeswehr, Flugzeuge mit Atombomben zu beladen, erscheinen vergleichsweise vorsintflutlich. Diese Bomber dürften im Kriegsfall kaum das Territorium Russlands erreichen, sondern würden mitsamt ihrer tödlichen Fracht über dem NATO-Mitgliedsland Polen abgeschossen.
Ob die grotesken Strategien der Atommächte am Ende einer der Seiten einen Sieg im Atomkrieg bescheren, bleibt mehr als zweifelhaft. Ein Ende der Menschheit erscheint bei diesen Szenarien wahrscheinlicher.
Wenn die Menschheit überleben will, so muss ein generelles Verbot der Atomwaffen in Kraft treten. Bisher haben den entsprechenden Vertrag 84 Staaten unterzeichnet und 47 ratifiziert. Deutschland ist bisher nicht dabei.
Otmar Steinbicker ist Redakteur der Zeitschrift "FriedensForum" und Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier