Otmar Steinbicker
Die Gefahr eines Atomkrieges ist in jüngerer Vergangenheit wieder deutlich gestiegen
Aachener Nachrichten, 11.04.2015
Nach der Grundsatzeinigung, die den Streit um das iranische Atomprogramm beigelegt hat, kommt die Frage auf: Wird jetzt auch das groß angelegte Raketenabwehrsystem der Nato begraben, das angeblich gegen iranische Atomraketen gerichtet war? Die Antwort lautet Nein. Die Raketenabwehr war nämlich nie zu diesem Zweck gedacht. Sie war von Anfang an gegen Russland gerichtet.
Nachdem die Welt während der Kuba-Krise 1962 nur um Haaresbreite einem Atomkrieg entgangen war, hatten die USA und die UdSSR ein vitales Interesse daran, die Gefahr einer gegenseitigen Vernichtung einzudämmen. Die vertragliche Grundlage bildete ab 1972 der ABM-Vertrag, der die Abwehr gegnerischer Atomraketen drastisch einschränkte. Mit diesem Bekenntnis zur eigenen Verwundbarkeit wurde das Prinzip „Wer als erster schießt, stirbt als zweiter“ durchgesetzt, auf dessen Grundlage sich auch auf beiden Seiten die Zahl der Atomwaffen begrenzen ließ.
Raketen sind zielgenauer
Wer dennoch mit der Idee spielte, einen Atomkrieg führbar und gewinnbar zu machen, musste Wege finden, den vernichtenden Gegenschlag der anderen Seite nach einem eigenen Angriff abzuwehren. Den umfassendsten Versuch dazu machte die Reagan-Administration mit ihren Vorstellungen eines „Enthauptungsschlages“ gegen die UdSSR in den 1980er Jahren, was vor allem in Deutschland eine in ihrer Größe bis dahin kaum vorstellbare Friedensbewegung auf den Plan rief.
Heute laufen die Bestrebungen deutlich dezenter. Bereits im Dezember 2001 kündigten die USA den ABM-Vertrag als Eckpfeiler der nuklearen Abrüstung und begannen mit dem Aufbau einer bis dahin verbotenen Raketenabwehr. Die spektakuläre Ankündigung von US-Präsident Barack Obama, er strebe eine globale Null-Lösung bei Atomwaffen an, wofür ihm der Friedensnobelpreis verliehen wurde, blieb hingegen ohne jede praktischen Konsequenzen.
Zwar wurde die Zahl der Atomwaffen seit dem Ende des Kalten Krieges um etwa ein Viertel verringert, doch wurden die Raketen sehr viel zuverlässiger und zielgenauer. Bereits im Mai 2012 zog Giorgio Franceschini, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, aus dieser Entwicklung die Schlussfolgerung: „Insbesondere durch die Stationierung der ersten Raketenabwehrbatterien in Alaska und Kalifornien hätte Washington im 21. Jahrhundert eine weit über neunzigprozentige Chance, die russischen und chinesischen Nuklearstreitkräfte in einem Erstschlag zu vernichten, ohne dabei selbst nennenswerten Schaden zu nehmen.“ Der Traum der Reagan-Regierung, einen Atomkrieg führbar und gewinnbar zu machen, nahm aufs Neue Gestalt an.
Russland kam mit diesen Maßnahmen erkennbar in eine Zwickmühle. Zwar wurde versucht, mit neu entwickelten land- und seegestützen Atomraketen vom Typ „Topol-M“ und „Bulawa“ eine abschreckende Zweitschlagskapazität aufrecht zu erhalten. Doch ob das funktionieren würde, müsste im Zweifel erst der Kriegsverlauf zeigen.
Atomwaffen in der Eifel
Solange eine Seite sich Hoffnungen machen kann, einen Atomkrieg zu gewinnen, steigt die reale Kriegsgefahr erheblich, nicht zuletzt auch durch die dadurch ausgelöste Nervosität der Gegenseite. Auch dieser Problemfaktor muss bei einer Betrachtung des sehr komplexen Ukrainekonfliktes berücksichtigt werden.
In Deutschland verläuft die gefährliche Entwicklung weitgehend unbeachtet. Um den Beschluss des Deutschen Bundestages vom März 2010, mit dem die Bundesregierung einmütig aufgefordert wurde, sich „mit Nachdruck“ für den Abzug der letzten 20 auf dem Flughafen Büchel verbliebenen US-Atomwaffen einzusetzen, ist es still geworden. Die Ankündigung der USA, diese Waffen nicht nur nicht abzuziehen, sondern auch noch mit einem Kostenaufwand von bis zu zehn Milliarden Dollar zu modernisieren, blieb weitgehend unkommentiert.
Hieß es noch 2008 in der zentralen Dienstvorschrift 15/2 der Bundeswehr, der Einsatz atomarer Waffen sei deutschen Soldaten verboten, so wurde dieser Passus inzwischen stillschweigend gestrichen.
Die Gefahr eines Atomkrieges steht wieder real auf der Tagesordnung.
Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier