Otmar Steinbicker

Nach Jahren des Zögerns muss von der Bundesregierung eine ernsthafte Friedensinitiative ausgehen

Aachener Nachrichten, 07.10.2015

Otmar Steinbicker, Foto: Beate Knappe

Die einwöchige Besetzung der afghanischen Provinzhauptstadt Kundus war ein Schock, überraschend kam er jedoch nicht. Seit geraumer Zeit mehrten sich in der internationalen Presse Berichte über militärische Erfolge der Taliban im Norden des Landes.

Auch wenn das Stadtzentrum von Kundus nach einer Woche von Spezialtruppen der afghanischen Armee mit massiver Unterstützung der US-Armee wieder eingenommen werden konnte: Die Illusionen, die Taliban militärisch besiegen zu können, sind zerstoben. Was Hunderttausende Nato-Soldaten nicht schafften, kann die schlecht ausgerüstete afghanische Armee allein schon gar nicht leisten.

Verantwortlichen und zugleich kritischen Generälen aus Nato-Staaten war diese Perspektive bereits vor sechs Jahren bewusst, als sie unter Einbeziehung von Kräften aus der deutschen und afghanischen Friedensbewegung nach dem schrecklichen Tanklasterbombardement bei Kundus vorsichtige Kontakte zum „Feind“ aufnahmen, um Möglichkeiten einer politischen Lösung des Konfliktes zu sondieren.

Vielversprechende Gespräche

Was niemand zuvor für möglich gehalten hätte: Im Juli und August 2010 trafen sich Offiziere aus Deutschland, Großbritannien und den USA im ehemaligen Bundeswehrlager „Camp Warehouse“ in Kabul zu Gesprächen mit den Taliban-Kommandeuren von Kabul, der Provinz Jalalabad und einem Gesandten des Talibanführers Mullah Omar und erarbeiteten gemeinsam Grundzüge für eine realistische politische Lösung. Schon bald sollte in einer Provinz das Experiment einer Übergangsregierung gestartet werden. Die Taliban sagten zu, nicht nur keine Schreckensherrschaft wie zwischen 1995 und 2001 zu errichten, sondern Menschenrechte, speziell auch Frauenrechte anzuerkennen und sich als konservative politische Kraft an freien Wahlen zu beteiligen.

Anfang Oktober 2010 zog jedoch der neue Isaf-Oberkommandierende einen Schlussstrich unter die erfolgversprechenden Gespräche. Die beteiligten Offiziere wurden verdonnert, nur noch über Reintegration zu reden und den Taliban Geld anzubieten, wenn sie die Waffen niederlegen. Von einer politischen Lösung war keine Rede mehr. Damit waren Chancen verspielt. Noch bis Anfang 2014 signalisierte die Talibanführung der Bundesregierung vergeblich ihr Interesse an einer Wiederaufnahme von Gesprächen.

Mittlerweile erscheinen Friedensgespräche, geschweige denn Verhandlungen, illusorisch. Die Kampftruppen der Nato sind im Wesentlichen abgezogen. Die afghanische Regierung ist in sich heillos zerstritten und kann selbst anderthalb Jahre nach der Präsidentschaftswahl noch nicht einmal eine komplette Kabinettsliste präsentieren. Mit wem sollen die Taliban, selbst wenn sie es heute noch wollten, ernsthaft reden? Da muss für die Taliban die Vorstellung eines schnellen militärischen Durchmarsches bis Kabul verführerisch wirken. Wer von den 350 000 afghanischen Sicherheitskräften in Armee und Polizei will sich ihnen noch entgegenstellen?

Doch was soll bei einem kaum noch aufzuhaltenden militärischen Sieg der Taliban aus Afghanistan werden? Wird das Land dann in eine Schreckensherrschaft zurückfallen, zumindest aber sich völlig von der Außenwelt isolieren? Das würde mit Sicherheit die bereits anhaltende massive Fluchtwelle beträchtlich verstärken. Wer jung ist, flexibel und eine Ausbildung genossen hat, wird sein Heil im Ausland suchen und dem Land fehlen.

2012 hatte die Talibanführung erstmals signalisiert, mit Lizenzen für den Abbau lukrativer Bodenschätze an deutsche und US-Firmen einverstanden zu sein. Das könnte die nach 37 Kriegsjahren marode Wirtschaft wieder in Gang bringen.

Tod und Verderben

In der Bundesregierung wird derzeit über eine Verlängerung des Bundeswehreinsatzes nachgedacht. Dieser ginge erneut in die Sackgasse. Wer einen Ausweg sucht, muss Gespräche und Verhandlungen mit den Taliban suchen. Militärische Alternativen führen zu Tod und Verderben aber zu keiner Lösung.

Nach Jahren des Zögerns ist jetzt eine ernsthafte Friedensinitiative der Bundesregierung gefragt, auch wenn der Weg heute sehr viel schwieriger ist als vor fünf Jahren.

Otmar Steinbicker ist Herausgeber des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


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