Reiner Bernstein

Israel, um Himmels willen, Israel

18.07.2014

Nach einem langen Aufenthalt veröffentlichte Ralph Giordano 1991 seine Reportage „Israel, um Himmels willen, Israel“. Darin warnte er vor den Störfeuern einer politisch inkompetenten Politik, des zunehmenden Einflusses radikaler Siedler sowie des wachsenden Gewichts der militärischen Stäbe und äußerte die Sorge, dass Israel im Nahen Osten auf Dauer den Kürzeren ziehen könnte. Als wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs der nachmalige Vorsitzende der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) Kurt Blumenfeld nach Palästina reiste, zeigte er sich zwar von den Aufbauleistungen der ersten Einwanderer und von „der Begegnung mit der Landschaft“ tief beeindruckt, kam aber um die folgende Empfindung nicht herum:

„Es war zum Greifen deutlich, daß die Araberfrage“

– Blumenfeld benutzte gemäß dem Zeitgeist völlig unbefangen auch den Begriff „Judenfrage“ –

„unser politisches und menschliches Hauptproblem darstellte. Je mehr mir das bewußt wurde, desto mehr beschwerte mich der Eindruck, daß in Wirklichkeit nicht nur Jahrhunderte an Entwicklung uns von den Arabern trennen, sondern daß auch die Entwicklungstendenzen der islamischen Welt unseren Versuchen der Europäisierung des Landes widersprachen.“

Die Sätze stammen vom April 1914. 15 Jahre später verwahrte sich Martin Buber gegen einen Zionismus der „unreflektierten Selbstverständlichkeit”. Beiden Frühzionisten war bei aller spirituellen und – wie es Blumenfeld ausdrückte – „jüdisch-nationalen“ Bindung an das Land bewusst, dass sie die Spätgekommenen sind.

Konsequenzen sind ausgeblieben. Seit 1948 hat Israel im Zuge seiner militärischen Selbstbehauptung Mahnungen in den Wind geschlagen, dass sein Überleben auf den friedlichen Ausgleich mit den arabischen Nachbarn angewiesen sei. Noch vor wenigen Tagen schrieb der international bekannte Schauspieler und Filmemacher Mohammad Bakri aus Galiläa in geradezu nobler Weise, dass Israel keine Siedlung gewesen sei, bis es nach 1967 diesen Weg eingeschlagen habe. Solche Stimmen der Mäßigung drohen unterzugehen.

Während seiner zionistischen Werbetouren spürte Blumenfeld damals, „wie sehr das Deutschland Bismarcks ein künstliches Gebilde war, dessen Teile nur durch die preußische Zucht zusammengehalten wurden“. Israel von 1948 ist drauf und dran, seine nationale Existenz zu verspielen und auf das Schicksal der zerfallenden Staaten Syrien und Irak zuzusteuern. Wenn sich Benjamin Netanjahu heute weigert, mit „Hamas“ ins Gespräch zu kommen, stehen morgen die Salafisten auch außerhalb des Gazastreifens vor der Tür. Gegen sie ist kein militärisches Kraut gewachsen.

Niemand in Israel sollte sich etwas vormachen: Die bemühten Solidaritätsadressen Angela Merkels, David Camerons, François Hollandes und anderer Staatschefs bis hin zu Barack Obama sind brüchig. Zu viel Frustration und Ärger haben sich in den westlichen Hauptstädten angesammelt. Sie allein werden jedoch die Versäumnisse ihrer Diplomatie nicht aufhalten können, die unter dem Vorwand der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und der Behauptung der demokratischen Willensbildung einer israelischen Politik der Selbstzerstörung Vorschub leistete.

Die von Robert Weltsch, dem langjährigen Chefredakteur der in Berlin erschienenen „Jüdischen Rundschau“, zitierte Vorstellung aus dem frühen Zionismus, in einem eigenen Staat „ein jüdischer Patriot zu sein ohne spezifische Lebensweise oder Lebensphilosophie“, ist nach 1967 den Dogmen eines das Judentum religiös entstellenden Hypernationalismus gewichen, der die Gesellschaft zu zerreißen droht. Dazu braucht es ein feindliches arabisches Umfeld nur insofern, als es Stichworte für die gefährliche Selbstghettoisierung liefert.

Dr. Reiner Bernstein ist Autor des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier


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