Gershon Baskin
Mord an der Chance für Ruhe
15. November 2012
Kurze Zeit nach der Rückkehr Gilad Shalits entwarf ich für die israelische Regierung und die Hamas einen Entwurf zur Vereinbarung eines lange anhaltenden Waffenstillstandes. Ich ging von der Annahme aus, dass gegenwärtig keine der beiden Seiten daran interessiert sei, die Kriegshandlungen wieder aufzunehmen. Die Annahme war wohlbegründet und basierte auf der Erfahrung, die ich gemacht hatte, als ich direkt daran beteiligt war, nach dem Terroristenangriff auf der anderen Seite der Grenze zum Sinai im August 2011 einen Waffenstillstand zwischen Israel und Gaza auszuhandeln. Währenddessen fanden die Verhandlungen über Shalit statt.
Wiederholte Runden von Raketenabschüssen brachten im Laufe der folgenden Jahre auf beiden Seiten dieselben Ergebnisse: Beide Seiten suchten eine Leiter, die sie hinuntersteigen könnten, um Eskalation zu vermeiden. Durch Eskalation würde keine Seite politisch oder militärisch etwas gewinnen. Seitdem wurde – mit der Ausnahme der letzten Runde der Gewalt vor zwei Wochen – nach israelischen Präventivschlägen gegen Terrorzellen von Gaza aus Raketenbeschuss gestartet. Die präventiven Schläge gründeten sich auf Informationen des israelischen Geheimdienstes und wurden in erster Linie gegen Zellen des Islamischen Dschihad und der Volks-Widerstand-Komitees geführt. Die Hamas blieb fast immer im Hintergrund und gestattete anderen Gruppen in Gaza, ihre Raketen abzuschießen, bis schließlich die Kosten an Menschenleben zu hoch wurden. An diesem Punkt drängte die Hamas die Ägypter zum Einschreiten, um eine Rückkehr zur Ruhe sicherzustellen. In den letzten Runden beteiligte sich die Hamas unter dem Druck ihrer Öffentlichkeit am Abschuss von Raketen. Ihre Raketen richteten jedoch nur geringen Schaden an, da sie sie auf unbewohnte Gebiete abschoss. Allen Beteiligten war klar: Die Hamas war aus internen Gründen nicht daran interessiert, die Situation eskalieren zu lassen, und sie war einverstanden, allen Gruppen, sie selbst eingeschlossen, einen Waffenstillstand aufzuerlegen.
Der Hauptakteur auf der Hamas-Seite war Ahmed Jaabari, der Kommandant von Ezedin al Qassam, dem militärischen Flügel der Hamas. Wenn Jaabari überzeugt war, dass Israel ebenfalls bereit war, sich zurückzuhalten, war er seinerseits immer bereit, den Auftrag anzunehmen, allen anderen Gruppen und der Hamas den Waffenstillstand aufzuzwingen.
Sowohl Israel als auch die Hamas hatten auf den von mir Monate zuvor vorgeschlagenen Waffenstillstand hin beschlossen, keine Aktionen zu unternehmen. Zu diesem vorgeschlagenen Waffenstillstand gehörte ein Mechanismus, der israelische Präventivhandlungen verhindern und die Hamas in die Lage versetzen würde zu beweisen, dass sie bereit sei, Terrorangriffe auf Israel verhindern. Beide Seiten reagierten sehr ernsthaft auf den Vorschlag, jedoch wollte keine Seite sich darauf einlassen, ihn auszuprobieren, solange die andere Seite keine Offenheit zeigte.
Vor einigen Wochen beschloss ich, es noch einmal zu versuchen. Durch meinen Ansprechpartner in der Hamas vermittelt, nahmen wie beide Gespräche mit hochrangigen Beamten auf beiden Seiten auf. Vor einigen Tagen traf ich mich mit meinem Ansprechpartner in Kairo und wir vereinbarten, er werde einen neuen Vorschlag entwerfen, der sich auf unser gemeinsames Verständnis der Maßnahmen, die für sein Funktionieren nötig seien, gründete.
Gestern Morgen, einige Stunden, bevor Ahmed Jaabari ermordet wurde, legte mein Ansprechpartner in der Hamas den Entwurf Jaabari und anderen Hamas-Führern vor. Ranghohe Hamas-Führer hatten ihn schon gesehen und Jaabari beauftragt, die Reaktionen darauf in Gaza zu ermitteln. Ich sollte den Entwurf gestern Abend bekommen, um ihn den israelischen Beamten vorzulegen, die schon darauf warteten, dass ich ihn ihnen schicken würde.
Diese Möglichkeit ist nun zerstört. Jaabari ist tot und mit ihm die Chance für eine für beide Seiten vorteilhafte Verständigung auf einen lange anhaltenden Waffenstillstand. Warum hat Benjamin Netanyahu das getan? Die zynische Antwort, die Aluf Benn schon in Haaretz angeboten hat, ist: aus Wahlrücksichten. Auch Geschmolzenes Blei wurde unmittelbar vor Wahlen durchgeführt. Netanyahu denkt, dass der Schlag gegen Jaabari ihm bei den bevorstehenden Wahlen in Israel zu einem Vorteil verhelfen werde. Vielleicht stimmt das, vielleicht auch nicht.
Mir scheint, dass einige der Befehlshaber der israelischen Armee von den vorhergehenden Vereinbarungen, zur Ruhe zurückzukehren, frustriert waren, weil dabei die Hamas den Ton angab und Israel in der schwächeren Position war. Sie riefen dazu auf, die Abschreckungskraft Israels wiederaufzubauen. Sie dachten: Die Menschen in Gaza sollen den Schmerz eines ernsthaften israelischen Angriffs zu fühlen bekommen und dann werden sie es sich siebenmal überlegen, ehe sie weitere Raketen abschicken! In den letzten Tagen war bei Politikern, Militärexperten und Offizieren viel die Rede davon, zur Politik der gezielten Tötung
zurückzukehren. Das, so behaupteten sie, werde die Hamas-Führer dazu bringen, sich um des lieben Lebens willen zu verstecken und aufzuhören, auf uns zu schießen. Diese militärischen Genies machen sich nicht klar, dass das, was in der Vergangenheit noch nie funktioniert hat, auch jetzt nicht funktionieren wird.
Jetzt leben Millionen Israelis und Palästinenser mit Schrecken und Angst vor Angriffen. Viel mehr Bewohner Gazas als Israelis werden sterben, aber ist das eine würdige Leistung, auf die wir stolz sein können und die uns auf die Dauer Sicherheit garantieren wird? Ich denke nicht.
Ich kann mir nur vorstellen, dass sich die Regierung mit der Ermordung Jaabaris die Eintrittskarte zu Geschmolzenem Blei II gekauft hat. Diesmal sagen die Experten: Wir wollen sie jetzt erledigen. Wir wollen das nachholen, was wir beim letzten Mal versäumt haben. Wir wollen einen Regime-Wechsel!
Gut, so frage ich, und was dann? Wollen wir wirklich Gaza wieder besetzen? Denn das wäre die Folge eines Regime-Wechsels. Ich glaube nicht, dass Netanyahu eine neue Besetzung will. Wenn er das jedoch nicht will, muss er sich bewusst sein, dass wir am Morgen danach immer noch Nachbarn Gazas sein werden und dass Gaza immer noch von der Hamas betrieben sein wird. Sie wird nicht weichen und die Menschen in Gaza ebenso wenig.
Der Mord an Jaabari war ein Präventivschlag gegen die Möglichkeit eines lange anhaltenden Waffenstillstandes. Netanyahu hat äußerst verantwortungslos gehandelt. Er hat die Menschen in Israel in Gefahr gebracht und einen realen Schlag gegen die wenigen wichtigen pragmatischeren Elemente innerhalb der Hamas geführt. Er hat einmal mehr denen zum Sieg verholfen, die uns zerstören wollen, anstatt die zu stärken, die eine Möglichkeit finden wollen, dass wir, wenn schon nicht in Frieden, so doch ruhig nebeneinander leben können.
Der Entwurf für ein Waffenstillstandsabkommen im Original
Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler
Gershon Baskin ist Autor des Aachener Friedensmagazins www.aixpaix.de. Seine Beiträge finden Sie hier