Martin Arnold

Die Friedliche Revolution 1989: Wie Friedensgebete ihr das Tor öffneten – dargestellt am Beispiel von Leipzig

Fakten – Wirkung der Gütekraft – Bedeutung / Dezember 2014

Die sogenannte Diktatur des Proletariats in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) endete im Herbst 1989. Dieses Ende hatte viele Ursachen. Zu ihnen gehören Einflüsse von außen und von innen, darunter wirtschaftliche Schwierigkeiten, die, zusammen mit Informationen über gutes Leben in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) u.a. im Westfernsehen, Unzufriedenheit im Volk erzeugten oder verstärkten. Friedensgebete trugen schließlich entscheidend zum Erfolg der Friedlichen Revolution bei. Wie kam es dazu und worauf beruhte ihre starke Wirkung?1

Fakten

Schon vor 1989 gab es in der gesamten DDR einen gesellschaftlich-politischen Aufbruch, der sich an vielen Orten auch öffentlich, u.a. in Friedensgebeten, zeigte. Besonders bekannt geworden sind die Leipziger Gebete jeden Montag um 17 Uhr. Neben den vielen Friedensgebeten landesweit trugen gerade auch sie wesentlich zur Friedlichen Revolution bei: Am 9. Oktober 1989 stießen in Leipzig 70.000 Menschen mit Gütekraft das Tor zur Überwindung der DDR-Diktatur auf.

Entscheidenden Einfluss hatte in Leipzig eine Kerngruppe von Menschen, die beharrlich allen Widerständen zum Trotz langsam ein starkes Netzwerk aufbauten. Sie bestand aus denen, die das Friedensgebet in der Nikolaikirche montags um 17 Uhr gestalteten, seit 1982 zunächst unter der Leitung von Pfarrer Christoph Wonneberger, später der von Pfarrer Christian Führer. Die Betenden im ganzen Land fühlten sich von der sie immer wieder stärkenden Beziehung zu Gott getragen. Die Leipziger Pfarrer, der Gemeinderat und Menschen auf höherer kirchlicher Ebene unterstützten und schützten die Gebete mit Mühe gegen staatliche Angriffe. Zur Bewusstseins- und Netzwerkbildung leisteten u.a. die Ökumenischen Versammlungen 1988/89 in der DDR mit ihrem Eintreten für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sowie Impulse aus dem Ausland wesentliche Beiträge.2

In der ganzen DDR, auch in Leipzig, wurde die freie Meinungsäußerung der Menschen unterdrückt und außerdem wurden Tausende Ausreisewillige gesellschaftlich vollkommen ausgegrenzt; viele waren empört, viele hatten resigniert. In kirchlicher Wahrnehmung gehörten sie damit zu den „Mühseligen und Beladenen“, für die Jesus gekommen war und für die daher die Kirche zuständig war. Für diese Menschen wurde die Nikolaikirche – getreu ihrem Motto am Portal: „offen für alle“ – zu einem Raum für freie Begegnung und freies Gespräch. Die Friedensgebete wurden von den verschiedenen Gruppen gestaltet – ein wichtiges Strukturelement. Daher fanden auch die Inhalte dieser Gespräche einen kirchen-öffentlichen, offiziellen Ausdruck. Der freie Dialog über Politik und Gesellschaft, den die DDR-Politik ansonsten verhinderte, wurde im Friedensgebet in einem gewissen Schutzraum quasi-öffentlich begonnen.

Bei dem Beten wurden bestimmte Grundsätze beachtet:

Es soll als Wort der Versöhnung geschehen; keine bloßen Wirklichkeitsbeschreibungen, die in Ausweglosigkeit enden; ein Mindestmaß an Konstruktivität; keine Herabwürdigung von Personen – gewaltfreies Handeln vermeidet auch verbale Gewalt; ungeschminkte, ehrliche Zeugnisse der Betroffenheit in Trauer und Wut ohne „die unerträgliche Ausgewogenheit vieler kirchlicher Verlautbarungen“3; wahrheitsgemäßes Aufdecken von Unrecht.

Das Gespräch und das Gebet in dieser Atmosphäre wurden allmählich zur Gewohnheit. Sie veränderten die Beteiligten. Empörung und Hoffnungslosigkeit nahmen ab. Die Anliegen vor Gott zu bringen, entlastete von der Vorstellung, alles selbst machen zu müssen und damit von eigener Überforderung. Es ermöglichte Hoffnung durch die Befreiung zu realistischer Beurteilung der Lage und jede Lage ist ja zukunftsoffen. Die veränderten Menschen fassten Vertrauen in die Zukunft, anstatt in Wut oder in Angst zu versinken. Immer mehr Menschen kamen bewusst in diesem Geist zusammen und gaben ihm Ausdruck. So wuchsen Vertrauen, Mut und Hoffnung auf die Zukunft; das war ansteckend.

Wie stark im Laufe von Wochen, Monaten und Jahren Hoffnung und Mut bei vielen geworden waren, zeigte sich am 9. Oktober.

Zwei Tage vorher feierte die DDR-Führung das 40jährige Bestehen dieses Staates. Dabei demonstrierte sie wie bereits an einigen Montagen zuvor Skrupellosigkeit, indem sie nicht nur auf Demonstrierende, sondern auch auf Passanten, die zufällig vor der Nikolaikirche vorbeigingen, einprügeln und einige von ihnen einsperren ließ – offensichtlich zur Einschüchterung. Denn seit einiger Zeit versammelten sich regelmäßig nach dem Gebet vor der Kirche immer mehr Menschen, diskutierten und demonstrierten öffentlich. Am 9. Oktober sollte „dem Spuk ein Ende bereitet werden“ – so die Anweisung des Staatsratsvorsitzenden Erich Honnecker.4 Wenige Monate zuvor hatte die Pekinger Führung auf dem Platz des Himmlischen Friedens die für Freiheit demonstrierenden Massen grausam umbringen lassen und die DDR-Regierung hatte ihre Zustimmung erklärt. Nun wurden in Leipzig Polizei, Soldaten und Betriebskampfgruppen aufgestellt, 8000 Bewaffnete standen bereit. Große Mengen Blutkonserven wurden in Leipziger Krankenhäusern bereitgehalten. Betriebe, Kindergärten und Schulen schlossen früher als sonst. Die Bevölkerung wurde davor gewarnt, am Nachmittag auf die Straße zu gehen. Die Kirche, ja die ganze Stadt standen unter starkem Druck.

In dieser Situation geschürter Angst und äußerster Anspannung behielten viele Menschen das Vertrauen in die Zukunft und den Mut, die in den Gesprächen und Gebeten gewachsen waren. Das Praktizieren eines offenen Dialogs und die Forderung danach bei ausdrücklicher Ablehnung von Gewalt hatten Tausende inspiriert. Eltern, die trotz der Massenmord-Drohungen am Friedensgebet teilnahmen, sorgten für den Fall, dass sie nicht wieder nach Hause kommen würden, vor: Sie regelten, wer dann für ihre Kinder sorgen würde.

Die Nikolaikirche fasste schon vor dem 9. Oktober die Massen nicht mehr. Daher wurde gleichzeitig auch in anderen Kirchen für Frieden gebetet. Um am Entscheidungstag wirklich Interessierten möglichst wenig Platz zu lassen, kamen Stunden vor Beginn tausend Funktionäre der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in die Nikolaikirche. Christian Führer bezeichnete dies „als einen besonders humorvollen Schachzug Gottes“.5 Denn auch diese Nichtchristen hörten nun die gütekräftige Jesus-Botschaft von der Gewaltfreiheit – und auch sie hielten sich hinterher an die Bitte „Nehmt die Gewaltlosigkeit aus der Kirche mit hinaus auf die Straßen und Plätze!“ Denn, so formulierte es Christian Führer: „Straße und Kirche gehören zusammen!“6 In den Kirchen war die Atmosphäre christlich-gütekräftig. In den Kirchen und im Rundfunk wurde der „Aufruf der Sechs“ verlesen. Es war ein Aufruf sechs angesehener Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter dreier SED-Sekretäre, die sich – wie vorher nur die Protestierenden – nun auch für den Dialog mit der Staatsführung einsetzten. Sie sympathisierten offensichtlich mit den Demonstrierenden.

Nach dem Gebet strömten insgesamt 70.000 friedlich Demonstrierende, viele mit Kerzen in den Händen, auf den Leipziger Ring. Dort wurde schon Stunden zuvor ein illegal gedruckter „Appell“ zur Gewaltlosigkeit massenhaft verteilt – auch an Bewaffnete. Vereinzelte Provokationen durch Demonstrierende wurden von anderen niedergehalten.

Die politische Führung, die geglaubt hatte, sie könnte durch ihre ‚Sicherheitskräfte‘7 die Sache beenden, hatte für den 9. Oktober nicht mit solchen Massen, die sich nicht einschüchtern ließen, gerechnet. Sie war „auf alles vorbereitet, nur nicht auf Kerzen und Gebete.“8 Fieberhafte Beratungen, auch telefonisch mit dem Innenministerium in Berlin, führten zu keiner Entscheidung. Weder Festnahmen noch der Einsatz von Schlagstöcken oder Schusswaffen wurden befohlen. Dass – anders als am 17. Juni 1953 – im Hintergrund keine sowjetischen Panzer bereitstanden, dürfte dazu beigetragen haben.

So wurde manifest: Die SED-Führungsriege war tief verunsichert. Diese Verunsicherung zeigte sich bereits vorher durch den Befehl an tausend Funktionäre, ohne Uniform in die Nikolaikirche zu gehen. Denn das hatte auch zur Folge, dass die ‚Sicherheitskräfte‘, als alle die Kirche verließen, nicht ‚Freund‘ von ‚Feind‘ unterscheiden konnten. Unbekannt ist, ob auch dies ein Grund für das Ausbleiben des Schießbefehls war.

„Die Nachricht, dass die Demonstration in Leipzig friedlich verlaufen war, löste in der gesamten DDR eine kaum zu beschreibende Freude aus.“9 In den nun folgenden Wochen versammelten sich im ganzen Land Hunderttausende in aller Öffentlichkeit, oftmals im Zusammenhang mit Friedensgebeten. Die Demonstrationen wurden vom Staat geduldet. Die Verunsicherung der Führungselite wurde schließlich so stark, dass der Staat zusammenbrach.

Wirkung der Gütekraft

Das Wunder. Viele, die dabei waren, erlebten diese Ereignisse als Wunder, als Geschenk Gottes, als Erhörung ihrer Gebete. „Gebete ändern die Welt nicht. Aber Gebete ändern die Menschen. Und die Menschen verändern die Welt.“10 Dafür, wie die Gebete zur Friedlichen Revolution wesentlich beitrugen, braucht es keine übernatürliche Erklärung, etwa als direktes Eingreifen Gottes neben menschlichem Handeln. Wunder sind zwar nicht erzwingbar – sie sind und bleiben Wunder –, sie können aber durch menschliches Handeln wahrscheinlicher werden. Das gilt für das Handeln religiöser wie nicht religiöser Menschen. Der nicht religiöse Michail Gorbatschow wurde in der DDR mit dem Nichtjuden Kyros verglichen, der 539 v.Chr. das jüdische Volk aus der Verbannung zurückkehren ließ – nach biblischer Aussage handelte er so im Dienste Gottes. Auch das Auftreten Gorbatschows wurde als Wunder gesehen. Gutestun ist eine Möglichkeit aller Menschen, die Kraft zum Guten, Gütekraft steckt in uns allen. Sie kann als Gottes Kraft, als Kraft des Heiligen Geistes gesehen werden. In der Bibel heißt es: der Geist „weht, wo er will“,11 und auch gütekräftiges Vorgehen darf nicht mechanistisch missverstanden werden. Es gibt – ebenso wenig wie bei anderen Vorgehensweisen – keine Erfolgsgarantie.

Beten ist bei gütekräftigem Vorgehen nicht erforderlich. Aber es kann förderlich sein.

Der Missstand. In der ‚Diktatur des Proletariats‘ war der totalitäre Anspruch des Staates der Hintergrund für die Unterdrückung freier Meinungsäußerungen und für die Ausgrenzung Ausreisewilliger. Der staatliche Totalitätsanspruch war, viele sahen das deutlich, der eigentliche Missstand.

Unter ihm litten große Teile der Bevölkerung mehr oder weniger, sicherlich auch Mitglieder der SED, von denen viele aus beruflichen Gründen und nicht aus Überzeugung eingetreten waren, sowie diejenigen, die in ihrer Auffassung von Kommunismus von der offiziellen Linie abwichen und ‚immanente Kritik‘ übten.

Den Missstand abbauen. Allgemein verhinderte dieser Totalitätsanspruch der DDR-Politik den freien Dialog über Politik und Gesellschaft. Christinnen und Christen bestritten die Berechtigung dieses Anspruchs. Die Kirche stellte einen Raum für freie Begegnungen und unzensiertes Gespräch zur Verfügung. Dadurch begann sie im eigenen Einflussbereich damit, den Missstand an Ort und Stelle abzubauen. Durch die Friedensgebete geschah dies quasi-öffentlich in einem gewissen Schutzraum. Dieser konnte auch gegen massive Angriffe des Staates erhalten und der Dialog dort konnte fortgesetzt werden.

Das erste Kennzeichen des gütekräftigen Vorgehens ist das Selbstbeginnen. Dies zeugt von innerer Stärke und ist viel kraftvoller, als einfach nur Forderungen an andere zu richten. Die angestrebte Veränderung wird in dem Maß, wie es mit den eigenen Kräften möglich ist, ansatzweise bereits verwirklicht und der Abbau des Missstandes beginnt bereits. Das eigene Tun, auch wenn es nur wenig ändern kann, hat Wirkung. Es kennzeichnet die erste Wirkungsweise des gütekräftigen Vorgehens.

Zunächst nutzten diejenigen den kirchlichen Raum, die aus ihrem Nicht-einverstanden-Sein schon persönliche, riskante Folgerungen gezogen hatten: vor allem protestierende Jugendliche und Ausreiseantragsteller*innen. Das freie Gespräch verschaffte ihnen persönliche, mentale Entlastung von dem Druck, unter dem sie zwar weiterhin standen, es eröffnete ihnen jedoch einen neuen Lebensraum. Nach einiger Zeit kamen mehr Unzufriedene zu den Friedensgebeten. Und schon bald wurden auch Menschen, die noch nicht persönliche Konsequenzen aus dem Leiden am Missstand gezogen hatten, durch die Vorangehenden zur montäglichen Teilnahme angeregt. Das Selbst-Beginnen im neuen, freieren Lebensraum wirkte ansteckend.

Die zweite Wirkungsweise gütekräftigen Handelns ist das Anstecken anderer. Nicht nur die anfangs Engagierten, sondern auch andere Personen ändern ihr Handeln.

Gütekraft ist nicht nur eine Möglichkeit für jeden Menschen (alle können Gutes tun). Sondern ebenso wie wir alle wohlwollend und gerecht behandelt werden wollen, haben wir alle über die bloße Möglichkeit hinaus bewusst oder unbewusst die Neigung, anderen mit Wohlwollen und Gerechtigkeit zu begegnen. Diese Neigung kommt aus der elementaren Verbundenheit aller. Neurologen zeigen, dass wir Verbundenheit bereits vor der Geburt erfahren und als positive Grunderfahrung mit auf die Welt bringen.12 Die Neigung zu helfen ist angeboren. Sie ist schon bei Kleinkindern und auch bei Schimpansen zu beobachten.13

Wenn dieses Potenzial das Handeln aktuell nicht bestimmt, kann es geweckt werden – bei allen Menschen. Die oben erwähnten Grundsätze der Friedensgebete zu beachten ist typisch nicht nur für christlichen Umgang mit Problemen, sondern auch allgemein für gütekräftiges Handeln. Je klarer danach gehandelt wird, desto größer ist die Aussicht auf Ansteckung, auf positive Wirkung. Sie kommt oft zustande, wenn es zum Beispiel gelingt, andere an einem Missstand Beteiligte in ihrem Gewissen anzusprechen, oder wenn andere Gründe diese Personen innehalten lassen. Dies ist häufig dann der Fall, wenn sie wahrnehmen, wie sich Menschen aktiv für Verbesserungen einsetzen und mit dem Abbau eines Missstandes beginnen, besonders dann, wenn dieses Handeln mit persönlichen Kosten oder Risiken verbunden ist und daher persönlich beeindruckt. Solche Taten bringen die Gütekraft-Potenz in den beobachtenden Personen zum Mitschwingen, sie regen sie so zu eigenem Tun an, sie ‚stecken an‘. Ob diese Anregung zur Tat führt, hängt dann jeweils von weiteren Umständen ab.

Das gütekräftige Vorgehen erzeugt bei den anderen am Missstand Beteiligten, auch unter den Führungspersonen, die den Missstand stützen, durch das Mitschwingen Zweifel und Widersprüche. Dies kann bei einigen zur Verhärtung führen. In der Regel bewirken die Zweifel in der Führungsgruppe verschiedene Ansichten über den Umgang mit den gütekräftig Engagierten und ihren Anliegen. Die Spaltung der Führung hilft zum weiteren Abbau des Missstands. Damit sie wahrscheinlich wird, ist es wichtig, dass die Engagierten diesen anderen Beteiligten mit wohlwollender Haltung begegnen und gleichzeitig auf Gerechtigkeit bestehen. Es ist ein wohlwollend-gerechtes Streiten. Auch Menschen, die den Missstand direkt stützen, können dadurch angeregt werden, ihr Handeln zu ändern.

In Leipzig hatten seit Jahren Pfarrer und weitere kirchenleitende Personen mit staatlichen oder Partei-Stellen wohlwollend-gerecht gestritten. Und dies geschah auch bei den montäglichen Friedensgebeten in der Kirche und den Diskussionen und Demonstrationen draußen. Diese offenen Gespräche nach der Art wohlwollend-gerechten Streitens und das gütekräftig gestaltete Gebet erwiesen sich als wirksame Medien zum ansteckenden Umgang mit dem Missstand. Dem lag jedoch kein Plan zugrunde. Das kirchliche Handeln ergab sich von selbst aus dem kirchlichen Selbstverständnis, das in den Ökumenischen Versammlungen weiterentwickelt wurde. Erst nach einiger Zeit trugen auch Demonstrationen und vorbereitete Beiträge für das Westfernsehen, durch das die Vorgänge auch in der DDR weit bekannt wurden, zur ansteckenden Weitergabe der Impulse bei.14

Weltweit und auch innerhalb der DDR war Michail Gorbatschows Moskauer Glasnost-Politik, die auf Offenheit, Transparenz, Öffentlichkeit setzte, bereits weithin bekannt geworden. Die deutsche Ausgabe der sowjetischen Zeitschrift ‚Sputnik‘ berichtete davon in beiden deutschen Staaten. Da dies der herrschenden SED-Parteilinie widersprach, wurde ‚Sputnik‘ in der DDR verboten. Dies machte Glasnost noch populärer, sodass sich die neue Offenheit schon bald dadurch wirksam entfaltete, dass das Volk mutiger wurde. Außer bei den Friedensgebeten gab es mehr und mehr weitere Orte und Gruppen des offenen Gesprächs über gesellschaftliche und politische Fragen. Frei und offen miteinander zu sprechen hieß, sich dem Totalitätsanspruch des Staates nicht länger zu unterwerfen: Es war ein Akt der Nichtzusammenarbeit.

Die dritte Wirkungsweise des gütekräftigen Vorgehens ist die Nichtzusammenarbeit mit dem Missstand (neben Eigentätigkeit und Ansteckung). Sie entzieht dem Missstand die Stützen.

Kirchen und andere Räume und Gruppen, die für Nichtzusammenarbeit in Form des freien Dialogs Raum boten, stützten nicht nur das System nicht mehr, sondern untergruben den Totalitätsanspruch des Staates.

Die Aufforderung „Keine Gewalt!“ hatte, besonders am 9. Oktober, für die beteiligten Gruppen mehrere Bedeutungen, die sich allerdings überschnitten. Für Christ*innen drückte sie die Orientierung am gewaltlosen Jesus aus, der im Vertrauen auf Gott als verbindliches Vorbild angesehen wurde. Für die Demonstrierenden war Gewaltlosigkeit ein Gebot taktischer Klugheit, weil Angriffe z.B. gegen ‚Sicherheitskräfte’ staatlichen Gewalteinsatz legitimiert hätten. Bei Angehörigen der ‚Sicherheitskräfte‘ aller Dienstgrade appellierte die Aufforderung an ihr Gewissen, ggf. bestimmten Einsatzbefehlen nicht Folge zu leisten. Für die politische Führung war „Keine Gewalt!“ die Aufforderung, politischen Dialog zuzulassen, statt die Kritiker*innen brutal mundtot zu machen. Einige Funktionäre hatten sich bereits dafür entschieden. Ihre Bereitschaft und ihre Aufforderung zum Dialog bedeutete natürlich Verzicht auf staatliche Gewalt gegen die Dialogpartner*innen.

So nahm der „Aufruf der Sechs“ das auf, was an der Basis, in der Moskauer Glasnost-Politik sowie am Runden Tisch der polnischen Staatsführung mit der Solidarność-Bewegung bereits Konsens war: Mit ihrem Aufruf kündigten die Sechs dem Missstand ‚totalitärer Staat‘ die Zusammenarbeit auf.

Kraft. An den Veränderungen im Handeln von Menschen, zumal derer, die bis dahin den Missstand stützten, wird auch von außen erkennbar, dass hier eine Kraft wirksam wird. Als Kraft wird angesehen, was Wirkung hat. Hier ist erheblich mehr und anderes als das bloße Nichtausüben von Gewalt (Gewaltfreiheit, Gewaltlosigkeit) im Spiel. Eine Kraft wird zur Wirkung gebracht. Dieses Positive auch positiv als Kraft zu benennen, ist wichtig. Denn es drückt aus, dass es nicht in erster Linie um ein Nichttun (Nichtanwenden von Gewalt) geht, sondern um aktives konzeptionelles Handeln, das Wirkungen wahrscheinlich macht.

„Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“? Mit dem „Aufruf der Sechs“ war der Impuls offensichtlich auf der Leipziger SED-Führungsebene angekommen. Er legte die Axt an die Wurzel des sozialistisch-kommunistischen Selbstverständnisses, denn er plädierte für Dialog und forderte somit dazu heraus, als Partei den Anspruch auf alleinigen Wahrheitsbesitz aufzugeben – entgegen dem jahrzehntelang landesweit propagierten Liedslogan „Die Partei, die Partei, die hat immer Recht“. Mit dem Wahrheitsbesitz wurde zugleich die Rechtfertigung für den – notfalls mit Waffen durchzusetzenden – Totalitätsanspruch infrage gestellt. Weil er dem Dialog im Wege stand, erkannten diesen nun auch immer mehr Führungskader als Missstand. Daher trafen die Forderungen nach Dialog und Gewaltlosigkeit den Missstand Totalitätsanspruch der Parteileitung diese an zentraler Stelle.

Die herrschenden Kreise in Leipzig wurden tief verunsichert, ohne dass die Unzufriedenen planmäßig darauf hingearbeitet hatten. Die Strahlkraft der Friedensgebete wirkte. Am 9. Oktober waren ihr auch die tausend Funktionäre in St. Nikolai ausgesetzt. Die montäglichen Erlebnisse von Gesprächen und Gebeten bewirkten zunächst gute Erfahrungen und die Überzeugung von der Richtigkeit des Dialogs. Darüber hinaus förderten sie auch die innere Bereitschaft und lockten zum Gespräch. Damit wuchs der tragende Grund für den Verzicht auf Gewalt gegen Andersdenkende. Die Glasnost-Signale und das Fehlen von Rückendeckung für den Einsatz von ‚Sicherheitskräften‘ aus Moskau verstärkten ihn. Wahrheits- und Totalitätsanspruch der SED traten nun unabweisbar auch öffentlich als Missstand zutage.

Widerspruch wecken und verstärken. Gewaltfrei-gütekräftiges Vorgehen besteht bei größeren Missständen wesentlich darin, unter denen, die den Missstand aufrechterhalten, Kritik und Widerspruch dagegen zu wecken und zu verstärken. Bei der Rosenkranzrevolution auf den Philippinen 198615 wurde, methodisch reflektiert, genau darauf systematisch hingearbeitet: Widerspruch wecken und verstärken bei denen, die die Diktatur stützten. Diese gezielten Bemühungen bestanden in vielfältigen Aktivitäten zum Abbau der diversen Stützen der Diktatur und führten nach Bekanntgabe des gefälschten Wahlergebnisses durch den Diktator zur offenen Meuterei des Verteidigungsministers und des Polizeichefs, die sich zusammen mit einigen Getreuen im Ministerium verschanzten. Den gegen die Meuterer in Marsch gesetzten Panzertruppen stellte sich das Volk massenhaft in den Weg. Die Panzer hielten an. Eine weitere Stütze des Missstands war gefallen. Die Macht des Diktators war geschwunden. Er verließ das Land. Massenhafte Nichtzusammenarbeit kann auch starke, komplexe Gewaltstrukturen überwinden und Diktatoren entmachten.

In der DDR waren die Zweifel an der Rechtmäßigkeit staatlicher Zwangsmaßnahmen bereits bis weit in die Führungsriege des Staates gedrungen. Angesichts der Massen friedlich Demonstrierender nahm darum der Wille zur gewaltsamen Durchsetzung der Staatsraison auch bei der Führung rapide ab und schwand schließlich ganz. Darum waren Schießbefehlsverweigerung oder Meuterei von ‚Sicherheitskräften‘ nicht mehr nötig.

Die Botschaft elektrisierte das Land. Die DDR war durch die vielen Friedensgebete, durch ‚Sputnik‘ und Glasnost und aus wirtschaftlichen und politischen Gründen bereit für die revolutionäre Botschaft: ‚Der Wahrheits- und Totalitätsanspruch der Partei ist nicht aufrechtzuerhalten.‘16 Diese Botschaft, die mehr oder weniger ausdrücklich als gemeinsamer Kern in den vielen Aktivitäten enthalten war, elektrisierte, von Leipzig ausgehend, die empfangsbereite Bevölkerung. Nahezu im ganzen Land wurde sie an den folgenden Montagen durch Demonstrationen hunderttausendfach verstärkt. Unausweichlich erreichte sie auch sämtliche Führungsebenen. Was bedeutete dies für diejenigen, die vor allem aus jenem Wahrheitsanspruch ihr Selbstverständnis und ihren Auftrag als Regierende herleiteten? Die Geschehnisse belegen eindrücklich die große, ansteckende Kraft des Selbst-Beginnens, die schließlich zu massenhafter Nichtzusammenarbeit führte. Überall im Land fanden in neu gebildeten Gruppen politische Dialoge statt. Die Botschaft von der Notwendigkeit des Dialogs erreichte und verunsicherte die im alten Selbstverständnis Regierenden – auch von Seiten ihrer politischen Freunde – mit solcher Vehemenz, dass es für sie nur noch eine Frage der Zeit war abzutreten.

Zur Bedeutung

Historisch für Deutsche: Die Friedliche Revolution ist für uns Deutsche besonders wichtig, weil sie Teil unserer eigenen Geschichte ist. Der erste Schritt zu bewusstem gütekräftigem Handeln ist, die Gütekraft im Eigenen zu entdecken, sie in der eigenen Geschichte und damit als eigene Möglichkeit zu erkennen. Wir haben in Deutschland eine Reihe guter Erfahrungen mit gewaltfrei-gütekräftigem Vorgehen, auch vor und unter der Naziherrschaft17 und danach, z.B. beim Ausstieg aus der Atomenergie.

Die Grundannahme ist: Aufgrund der Gütekraft-Potenz spüren alle zumindest unbewusst, dass der Einsatz für Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit zu unserem Leben gehört, und sind deshalb grundsätzlich bereit, sich zum Gutestun, d.h. zum Einsatz für diese Werte, anstecken zu lassen.

Darum ist möglich, was Paulus empfiehlt: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde Böses mit Gutem“18: Das Gute ruft im Gegenüber ein Mitschwingen hervor und kann daher, wenn dies stark genug ist, dessen („böse“) Schädigungsimpulse unwirksam machen. Auch der Koran kennt diese Wirklichkeit und formuliert sie ausdrücklicher: „Gutes und Böses ist nicht einerlei; darum wende das Böse durch Gutes ab, dann wird selbst dein Feind dir zum echten Freund werden.“19 Es muss nicht immer persönliche Freundschaft entstehen, es können auch Menschen, die zuvor das System unterstützten, zu Mitstreitern gegen Unterdrückung werden. Die Empfehlungen von Paulus und im Koran sind also nicht nur im unpolitischen Konflikt auf der Mikroebene, also zwischen Einzelpersonen von Bedeutung, sondern auch in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen: Alle anderen an einem Missstand Beteiligten von vornherein als potenzielle Mitstreiter*innen anzusehen, ihnen beharrlich mit dieser Haltung zu begegnen und sie durch eigenes Vorangehen zum Gutestun herauszufordern, bietet gute Chancen, viele zur Mitarbeit an der Überwindung von Unmenschlichkeit, Unterdrückung oder Unrecht zu gewinnen. Wer sich in dieser Weise engagiert, darf von vornherein mit der potenziellen Zustimmung vieler rechnen.

Ungerechte Strukturen. Wenn viele sich anstecken lassen, können mit diesem Vorgehen auch Strukturen geändert werden. Dies geschieht – geplant oder ungeplant – dadurch, dass immer mehr der Personen, die eine ungerechte Struktur aufrechterhalten, zur Nichtzusammenarbeit übergehen, bis die Struktur schließlich nicht mehr hinreichend gestützt wird und zusammenbricht. Verstößt gewaltfrei-gütekräftige Nichtzusammenarbeit gegen geltende gesetzliche Vorschriften, so wird sie ziviler Ungehorsam genannt. Solche Aktivitäten spielten 1989 in der DDR – anders als 1986 auf den Philippinen – keine wesentliche Rolle, weil kirchliche Aktivitäten in kirchlichen Räumen legal waren. Deshalb konnte an diesen Orten die Untergrabung des staatlichen Totalitätsanspruchs bis zur mutigen Stabilisierung dieses Handelns vorankommen. Diktaturen wurden überwunden, wenn – wie 1986 auf den Philippinen und 1989 in der DDR – wesentlichen Unterstützer*innen der Diktatur, seien es ‚Sicherheitskräfte‘ oder führende Politiker*innen, die Herrschaft nicht mehr legitim erschien und sie deshalb den Gehorsam aufkündigten.20 Diese Beispiele zeigen wie viele andere: Gütekräftiges Vorgehen ermöglicht gewaltfreie Systemüberwindung.

1Von dem komplexen Geschehen werden hier nur die wichtigsten Fakten, fokussiert auf Leipzig, erwähnt und kommentiert, sodass Grundzüge der Gütekraft erkennbar werden. – Der Ruf „Wir sind ein Volk“, der Schrei nach der D-Mark und die anschließende Einverleibung der ‚jungen Bundesländer‘ in die BRD führten zu einem Ergebnis, das anfangs nicht beabsichtigt war. Ich betrachte hier nur die Zeit bis Oktober 1989, als sich diese Entwicklung noch nicht abzeichnete. – Diese Darstellungen dürfen nicht als Rezepte missverstanden werden.

2Vgl. die hervorragende Dokumentation Bürger 2013.

3Führer 2012: 103.

4Führer 2012: 187.

5Führer 2012: 220.

6Passim in Führer 2012 und Führer 2014.

7In Anführungsstrichen, weil die weltweit übliche Bezeichnung, mit der ich hier alle bewaffneten Gruppen zusammenfasse, allzu oft keine Sicherheit erzeugen.

8Bürger 2013: 144.

9Bürger 2013: 142.

10Die Quelle dieses gemeinhin Albert Schweitzer zugeschriebenen Zitats konnte ich nicht ermitteln.

11Joh. 3,8.

12Hüther, Hauser 2012: 38f.

13Max-Planck-Gesellschaft 2007

14Am 9. November beschleunigte die Berichterstattung des Westfernsehens die Maueröffnung.

15Vgl. www.guetekraft.net > Gütekraftberichte (Zugriff 21.9.2014).

16Vgl. z. B. für Magdeburg: Bürger 2013: 136.

17Vgl. Semelin 1995 und Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden 2007.

18Röm. 12,21.

19Sure 41, [33. 34] 35.

Quellen

Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. – Vorstand (Hg.) (2008): Bericht über das Kolloquium 2008…: Wissenschaftlicher Kongress „Frieden mit dem Unfrieden? Wissensbestände im Wandel“, 29.2.2008 bis 2.3.2008, Leipzig. Online: http://www.afk-web.de/fileadmin/afk-web.de/data/zentral/dokumente/tagungsberichte/AFK-Tagung-2008_Koll_Frieden-mit-dem-Unfrieden.pdf , S. 19-24 (Zugriff 21.09.2014).

Bürger, Eberhard (2013): Kirche des Friedens werden – Aufbrüche im Bereich der ehemaligen DDR. Eine persönliche Studie zum 25. Jahr der friedlichen Revolution im Jahr 2014. Hg. Deutscher Zweig des International Fellowship of Reconciliation – Versöhnungsbund e.V. ISBN 978-3-00-042460-1

Carter, April (2012): People Power and Political Change. Key Issues and Concepts. London / New York: Routledge

Führer, Christian (2012): Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam. Berlin: Ullstein.

Führer, Christian (2014): Frech - fromm - frei. Worte, die Geschichte schrieben. Leipzig: Evang. Verl.-Anst.

Hüther, Gerald; Hauser, Uli (2012): Jedes Kind ist hoch begabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen. Random House.

Max-Planck-Gesellschaft (2007): Selbstlose Primaten. Max-Planck-Forscher liefern erstmals den experimentellen Beweis, dass Schimpansen ihren Artgenossen tatsächlich selbstlos helfen. Pressemitteilung 26. Juni 2007. online: http://www.mpg.de/538443/pressemitteilung20070626 (Zugriff 28.11.2014).

Mündliche Berichte von Leipziger Augenzeugen an den Autor.

Nepstad, Sharon Erickson (2011): Nonviolent Revolutions. Civil Resistance in the Late 20th Century. Oxford: Oxford University Press.

Semelin, Jacques (1995): Ohne Waffen gegen Hitler. Eine Studie zum zivilen Widerstand in Europa. Frankfurt am Main: dipa, 1995 (1.Aufl. 1989).

Werkstatt für Gewaltfreie Aktion Baden (Hg.) (2007): Gewaltfrei gegen Hitler? - Gewaltloser Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seine Bedeutung für heute.

Wikipedia-Artikel zu: „Ökumenische Versammlung“, „Friedliche Revolution“ und „Montagsdemonstrationen“ (Zugriff 21.09.2014).

Martin Arnold ist Autor des Aachener Friedensmagazins aixpaix.de. Seine Beiträge sehen Sie hier


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