Interview mit Giorgio Franceschini (HSFK)

Was taugt der Atomteststopp, wenn er nicht die Trägersysteme einschließt?

Giorgio Franceschini

16.05.2012 – Mit Giorgio Franceschini, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), sprach aixpaix-Herausgeber Otmar Steinbicker am Rand des Kongresses "Friedenskultur 2012" über das heikle Thema der Modernisierung von Atomwaffen.

aixpaix.de: Einer der aktuell stark diskutierten Aspekte in der Atomwaffendebatte ist die Frage der Modernisierung der Atomwaffen, vor allem der Atomwaffen der USA. Was ist der Stand der Dinge?

Giorgio Franceschini: Die Entwicklungen im amerikanischen Nuklearwaffenkomplex der ersten beiden Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg waren vielschichtig. Quantitativ hat sich das Arsenal seit Ende des Kalten Krieges um etwa ein Viertel verkleinert, bei gleichzeitiger Reduzierung der Kernwaffentypen um den Faktor drei. Das Atomwaffenpotential der USA stammt noch aus dem Kalten Krieg. Die Pläne neuartige Kernwaffen zu bauen sind gescheitert. Der „neueste“ amerikanische Sprengkopf ist nach wie vor der in den 1980er Jahren entwickelte W88.

aixpaix.de: Weil es de facto einen Teststopp für Atomsprengköpfe gibt?

Giorgio Franceschini: Ja, aber wir schauen zu stark auf die Sprengköpfe, wir müssen stärker auf die Trägerwaffen achten. Was taugt der Atomteststopp, wenn er nicht alle Komponenten einschließlich der konventionellen und der Trägerwaffen einschließt?

aixpaix.de: Wo liegt da die Problematik?

Giorgio Franceschini: Die Raketen haben heute eine höhere Reichweite, sie sind zielgenauer und sie haben höhere Zuverlässigkeitsraten. So durchliefen die landgestützten Minuteman-III Raketen seit der Jahrhundertwende ein achtstufiges milliardenschweres Modernisierungsprogramm, das der US-Air Force ab dem Jahr 2010 eine leistungsfähigere Interkontinentalrakete zur Verfügung stellte. Da gibt es mittlerweile eine Treffergenauigkeit von 10 Metern.

Ähnliche Trends zeigten sich bei der Modernisierung seegestützter Trägersysteme, etwa der Trident II Submarine Launched Ballistic Missiles (SLBM). Hier brach die US-Navy insbesondere im Bereich der Zuverlässigkeit alle bis dahin bekannten SLBM-Rekorde.

aixpaix.de: Ein Impuls für eine neue Runde eines Rüstungswettlaufs?

Giorgio Franceschini: Ja, denn Russlands Potential ist bisher überwiegend landgestützt. Die U-Boot-Waffen sind sehr schlecht und auch das Frühwarnsystem ist sehr schlecht. Amerikanische Analysten haben errechnet, dass die USA im 21. Jahrhundert über den Schleichweg höherer Treffgenauigkeit und Zuverlässigkeit ihrer nuklearen Trägersysteme die strategische Stabilität gegenüber Moskau und Peking zu ihren Gunsten verändert haben.

Mehr noch: insbesondere durch die Stationierung der ersten Raketenabwehrbatterien in Alaska und Kalifornien hätte Washington im 21. Jahrhundert eine weit über neunzigprozentige Chance die russischen und chinesischen Nuklearstreitkräfte in einem Erstschlag zu vernichten, ohne dabei selbst nennenswerten Schaden zu nehmen.

aixpaix.de: Mit welchen Reaktionen Russlands und Chinas muss gerechnet werden?

Giorgio Franceschini: Peking und Moskau werden angesichts einer Erstschlagfähigkeit der USA ihr eigenes Atomwaffenpotential vergrößern und mindestens die Zahl der Atomwaffen erhöhen wollen, um für einen Zweitschlag überlebensfähig zu sein.

aixpaix.de: Wollen die USA den atomaren Erstschlag? Präsident Obama hat 2009 seine Vision einer atomwaffenfreien Welt vorgestellt. Will er jetzt das Gegenteil?

Giorgio Franceschini: Die USA sind die letzten, die die Atomwaffe unbedingt behalten wollen. Sie sind konventionell so absolut überlegen, dass Sie bei einer vollständigen Abrüstung aller Atomwaffen militärisch noch stärker wären als ihre Konkurrenten. Die USA bestreiten schließlich weltweit fast 50 Prozent der Militärausgaben.

aixpaix.de: Was heißt das, wenn eine atomwaffenfreie Welt das Ziel sein soll?

Giorgio Franceschini: Die Konsequenz ist: Man muss auch über konventionelle Abrüstung nachdenken. Dabei muss das Prinzip gelten: Der Stärkere muss nachgeben. Wenn die USA ein Signal zur Demilitarisierung der internationalen Beziehungen geben, dann werden Russland, China, Großbritannien, Frankreich, Indien und Pakistan nachziehen.

Otmar Steinbicker moderierte Giorgio Franceschini mit seinen ausführlicheren Erläuterungen zur Thematik bei der Auftaktveranstaltung des Kongresses "Friedenskultur 2012". Hören Sie das 26 Minuten lange Tondokument.


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