Interview mit dem afghanischen Stammesführer Naqibullah Shorish

Die Taliban sind zu Gesprächen mit USA und Europäern bereit

Otmar Steinbicker (l.) und Naqibullah Shorish in Aachen. Foto: Harald Krömer

07.08.2012 – In den letzten Wochen und Monaten gab es in der internationalen Presse sehr widersprüchliche Meldungen über die Frage: Wie verhandlungsbereit sind die Taliban? Mit wem wollen sie reden, mit wem nicht?

aixpaix.de-Herausgeber Otmar Steinbicker sprach über die zentralen Fragen einer Friedenslösung für Afghanistan mit Naqibullah Shorish, dem wichtigsten Stammesführer Afghanistans. Shorish unterhält Kontakte zu allen Seiten, auch zur Taliban-Führung. Sie hat ihn als neutralen Vermittler akzeptiert. Er repräsentiert als nationaler Stammesführer der Kharoti mehr als 3 Millionen Afghanen.

aixpaix.de: Gibt es noch Chancen für eine Friedenslösung? Offensichtlich sind Gespräche zwischen Taliban und USA im vergangenen Jahr gescheitert. Die Taliban erklärten, die Gespräche seien definitiv abgebrochen.

Naqibullah Shorish: Es gab im vergangenen Jahr Gespräche zwischen Taliban und USA unter deutscher Vermittlung in Katar. Bei diesen Gesprächen ging es ausschließlich um einen Gefangenenaustausch. Die Taliban halten seit Jahren den US-Soldaten Bowe Bergdahl gefangen und sie wollten ihn austauschen gegen ehemalige Taliban-Führer, die in Guantanamo gefangen gehalten werden. Die US-Unterhändler hatten in den Katar-Gesprächen deren Freilassung zugesichert, doch der US-Senat hat die Freilassung nicht genehmigt. Darüber sind die Taliban verärgert. Ich kann das verstehen. Wenn in solchen Gesprächen Zusagen gemacht werden, dann müssen die auch eingehalten werden, ansonsten kann kein Vertrauen entstehen. Das Scheitern dieser Gespräche ist insofern besonders problematisch, weil es sich hier um einen Test für eine Aufnahme von Friedensgesprächen handelte. Ein erfolgreicher gegenseitiger Gefangenenaustausch wäre ein Startsignal für ernsthafte Gespräche über eine Friedenslösung gewesen. Solche Gespräche wären dann auf einer anderen Ebene geführt worden.

aixpaix.de: Die Aussagen der Taliban zu Friedensgesprächen sind in letzter Zeit sehr widersprüchlich. Einerseits erklärten sie, sie hätten Gespräche mit den USA definitiv abgebrochen, andererseits signalisieren sie Bereitschaft zu Gesprächen. Was ist davon zu halten?

Naqibullah Shorish: Ja, es gab in letzter Zeit widersprüchliche Meldungen in der internationalen Presse. Dennoch: Die Taliban wollen den Konflikt grundsätzlich lösen. Sie sind zu Gesprächen mit Europäern und den USA bereit. Sie waren seit längerer Zeit gesprächsbereit und sie haben das im Sommer 2010 unter Beweis gestellt in Gesprächen mit ISAF-Offizieren aus USA, Großbritannien und Deutschland. Ich hatte diese Gespräche vermittelt und ich habe auch an ihnen als Vermittler teilgenommen. Diese Gespräche im Juli und August 2010 waren lösungsorientiert und erstaunlich erfolgreich. Sie wurden im Oktober 2010 jäh vom Oberkommandierenden General Petraeus abgebrochen. Wenn im Westen Interesse besteht, können sie jederzeit wieder aufgenommen werden – selbstverständlich ohne Vorbedingungen von beiden Seiten.

aixpaix.de: Die USA und auch die Bundesregierung bestehen auf Gesprächen der Taliban mit der Regierung Karzai. Einer Pressemeldung zufolge hat jetzt Präsident Karzai die Bundesregierung um Vermittlung von Gesprächen mit den Taliban gebeten. Gibt es dafür Chancen?

Naqibullah Shorish: Die Taliban haben immer wieder gesagt, sie wollen mit Karzai nicht reden, weil sie ihn für eine Marionette der USA halten und die Legitimität seiner Regierung bestreiten. Daher sehe ich bis auf Weiteres keine Chance für direkte Gespräche zwischen Präsident Karzai und den Taliban. Aber vielleicht sollte die Bundesregierung versuchen, in getrennten Gesprächen mit beiden Seiten zu sondieren, wo es Ansätze und vielleicht sogar Wege zu einer Friedenslösung geben kann. Da müssen die beiden verfeindeten Seiten nicht sofort miteinander reden. Eine solche diplomatische Vermittlung indirekter Gespräche hat es auch schon erfolgreich in anderen schwierigen internationalen Konflikten gegeben. Man sollte da nichts unversucht lassen!

aixpaix.de: Sie könnten solche Gespräche zwischen der Bundesregierung und den Taliban als Bestandteil indirekter Gespräche mit der Karzai-Regierung vermitteln?

Naqibullah Shorish: Wenn das von der Bundesregierung gewünscht wird, jederzeit. Ich bin sicher, dass, wenn dieser Wunsch geäußert wird, es recht schnell zu ersten Gesprächen kommen kann.

aixpaix.de: Eine Friedenslösung zwischen der Karzai-Regierung und den Taliban wäre denkbar?

Naqibullah Shorish: Das wage ich so nicht zu prophezeien, denn eine wichtigere Konfliktpartei als die Karzai-Regierung ist die NATO! Aber Gespräche sind immer nützlich, wenn man zu einer Konfliktlösung kommen will.

aixpaix.de: Wo könnte es Ansätze geben?

Naqibullah Shorish: Eine erste und für mich sehr zentrale Frage wäre: Was kann Karzai bieten, um den Taliban Sicherheit zu bieten? Wenn Karzai Friedensgespräche will, dann muss es eine neutrale Provinz geben, wo die Taliban weder von US-amerikanischen Drohnen noch vom pakistanischen Geheimdienst ISI bedroht werden. Von daher sollte es keine Grenzprovinz zu Pakistan sein. Meiner Meinung nach muss die ISAF die Sicherheit dieser Provinz garantieren.

aixpaix.de: Warum sollte Karzai den Taliban Sicherheit bieten?

Naqibullah Shorish. Foto: Harald Krömer

Naqibullah Shorish: Es gibt einen massiven Druck von Pakistan auf die Taliban, keine Gespräche weder mit den USA noch mit Karzai zu führen, vor allem nach Abschluss des Vertrages zwischen den USA und Afghanistan und nachdem im September 2011 bei einer Schießerei im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan 24 pakistanische Soldaten ihr Leben verloren haben. Pakistan, nicht die USA, die Taliban oder Karzai sind das Haupthindernis für eine Friedenslösung in Afghanistan. Solange die Talibanführer in Pakistan unter den Augen des Geheimdienstes ISI leben, sind sie und ihre Familien massiven Pressionen des pakistanischen Geheimdienstes ausgesetzt. Westliche Diplomaten wissen zumindest von einem Bombenanschlag des ISI auf das Haus eines gesprächsbereiten Talibanführers. Dessen Ehefrau wurde damals schwer verletzt.

In den Gesprächen zwischen ISAF und Taliban im Sommer 2010 spielte daher diese Frage eine zentrale Rolle. Damals gingen die Überlegungen beider Seiten in die Richtung, in einer afghanischen Provinz eine neutrale Übergangsregierung einzurichten, die das Vertrauen der Karzai-Regierung und der Taliban genießt, um eine Übersiedlung der Taliban nach Afghanistan zu ermöglichen und sie dem Zugriff des ISI zu entziehen.

aixpaix.de: Die Überlegungen, die die ISAF-Offiziere und die Talibanführer bei ihren Gesprächen im Sommer 2010, anstellten, liegen auch ihrem Friedensplan, dem „Shorish-Plan“ zugrunde?

Naqibullah Shorish: Ja, es erscheint mir sehr wichtig, dort anzusetzen, wo es bereits gemeinsame Überlegungen gab oder wo Überlegungen zumindest in eine gemeinsame oder ähnliche Richtung gingen. Deshalb habe ich auch drei erste Schritte benannt, die die Konfliktparteien möglichst unmittelbar nach der Aufnahme von Friedensgesprächen realisieren sollten:

1. Einstellung feindseliger Propaganda, 2. Freilassung von Gefangenen, 3. Waffenstillstand.

Das entscheidende Ziel meines Friedensplans besteht in einer neutralen Übergangsregierung, die nach dem Abzug der NATO-Truppen 2014 einen Bürgerkrieg verhindert und den afghanischen Konfliktparteien den Weg zu einer dauerhaften Friedenslösung erleichtert. Dabei ist auch daran gedacht, dass sich die Taliban als politische Partei formieren und ebenso wie andere an freien und unverfälschten Wahlen teilnehmen.

aixpaix.de: Die NATO und auch die Karzai-Regierung bestehen darauf, dass die Taliban die gegenwärtige Verfassung Afghanistans anerkennen.

Naqibullah Shorish: Das wird und das kann nicht funktionieren. Eine Verfassung muss die von allen relevanten Kräften im Konsens akzeptierte Grundlage des staatlichen und politischen Wirkens sein. So etwas kann nicht von außen einem Land aufgezwungen werden und es kann nicht von einer zweifelhaften Mehrheit den anderen Kräften im Land aufgezwungen werden. Afghanistan hat seit seiner Gründung die Einrichtung der Loya Jirga als Verfassunggebender Versammlung. Diese Loya Jirga wird über die Verfassung Afghanistans neu beraten und beschließen müssen, damit ein Konsens gefunden wird, an den sich alle halten können und müssen.

Im Übrigen: Die afghanische Regierung beachtet selbst die Verfassung nicht. Das zeigt sich besonders auffallend in der Korruption. Wie sollen dann die Taliban die Verfassung akzeptieren?

aixpaix.de: aixpaix.de: Heißt das, dass die nach 2001 festgeschriebenen Frauenrechte wieder abgeschafft werden?

Naqibullah Shorish: Nein. Afghanistan hat längere Traditionen akzeptierter Frauenrechte. Richtig ist, dass die Taliban in ihrer Regierungszeit diese Rechte mit Füßen getreten haben. Aber sie haben gelernt, dass das ein Fehler war. Mittlerweile erkennen sie das wichtige Recht von Frauen und Mädchen auf Ausbildung und Berufsausübung an. So hat auch der afghanische Bildungsminister zugegeben, dass die Taliban ihre Position gegenüber Mädchenschulen korrigiert haben. Als vor kurzem 23 Schulen im Süden geschlossen wurden, hieß es zuerst, die Taliban seien schuld, doch der Minister musste zugeben: es fehlten die Lehrer.

aixpaix.de: Die Berufstätigkeit von Frauen war auch in den Gründungsjahren der Bundesrepublik nicht unumstritten. Bis in die fünfziger Jahre konnten Ehemänner ihren Frauen die Berufstätigkeit untersagen. Das heißt, die Taliban von heute wären in dieser Frage moderner als die Konservativen in Deutschland vor 50, 60 Jahren?

Naqibullah Shorish: Ein interessanter Aspekt. Wenn Sie so wollen, ja.

aixpaix.de: Wie stehen die Taliban zu ihrem Friedensplan?

Naqibullah Shorish: Mir wurde signalisiert, dass sie zu etwa 95 Prozent diesem Plan zustimmen.

aixpaix.de: Und die anderen Seiten?

Naqibullah Shorish: In den afghanischen Stämmen und auch bei den nichtpashtunischen Ethnien stoße ich auf sehr viel Zustimmung. Europäische Diplomaten stoßen sich am Vorschlag einer Übergangsregierung. Sie sagen, dass die Karzai-Regierung demokratisch gewählt sei, obwohl sie von den Wahlfälschungen wissen...

aixpaix.de: ... und in der Eurokrise sehr schnell demokratisch gewählte Regierungen in Griechenland und Italien durch Übergangsregierungen ersetzt haben.

Naqibullah Shorish: Das Hauptproblem ist, dass es im Westen keine einheitliche Linie gibt, geschweige denn einen Friedensplan, über den man dann ernsthaft diskutieren und gegebenenfalls verhandeln könnte.

aixpaix.de: Der Shorish-Plan ist damit der einzige Friedensplan?

Naqibullah Shorish: Nicht der einzige Plan, aber der einzige, der zumindest von einer Konfliktpartei im Wesentlichen akzeptiert wird und damit entsprechende Relevanz hat.

aixpaix.de: In den vergangenen Monaten gab es verschiedentlich Meldungen über größere Streitigkeiten unter den Taliban.

Naqibullah Shorish: Es gibt derzeit Spannungen unter verschiedenen Gruppen der Taliban. Es gab sogar die Festnahme eines hohen Talibanführers, Kare Mohammad Ismail, durch die Talibanführung. So etwas hat es früher nicht gegeben. Im Wesentlichen gibt es eine Fraktion der Taliban, die auf den pakistanischen Geheimdienst hört und eine andere, die eine afghanische Politik verfolgen und nicht auf den ISI hören will. Aber: Eine Spaltung der Taliban würde das Problem nicht verringern, sondern vergrößern!

aixpaix.de: Als besonders problematischer Teil der Taliban wird oft das Haqqani-Netzwerk genannt.

Naqibullah Shorish: Haqqani hat sich zwar sehr strikt gegen die Katar-Gespräche ausgesprochen, aber er hat seine Meinung geändert. Die Gespräche in Katar kamen für viele Taliban sehr überraschend.

aixpaix.de: Welche Perspektive bleibt Afghanistan, wenn keine Friedensgespräche zustande kommen oder diese scheitern?

Naqibullah Shorish: Wenn es bis 2014 keine Gespräche gibt, dann droht ein Bürgerkrieg. Die USA bezahlen schon jetzt Warlords, die ihre Milizen aufbauen und verstärken. Diese Tendenz wird zunehmen, wenn - wie geplant - die Armee um 100.000 Mann verkleinert wird. Schon jetzt sind diese Milizen der Warlords täglich in Plünderungen verwickelt. In den Dörfern werden schon Dorfmilizen aufgestellt, um sich gegen die Milizen der Warlords zu schützen.

Wenn es aber zu einem Bürgerkrieg kommt, dann ist der Ausgang vorhersehbar: Dann wird es eine Übergangsregierung im Sinne der Taliban geben, nicht im Sinne der USA und nicht im Sinne der Afghanen.

Der Shorish-Friedensplan


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Zur Bedeutung des Shorish-Plans

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